"Anspannen!", befahl meine Mutter und stach mir mit ihrem Zeigefinger in den Bauch. Ich ächzte und hörte meinen Bruder neben mir kichern.
"Konzentration, Gabriel! Deine Füße stehen komplett falsch. Über Kreuz, nicht nebeneinander", rügte sie ihn und ging an mir vorbei, um seine Haltung zu korrigieren. Jetzt grinste ich. Mein Blick wanderte von meiner Mutter zu Maggie, die alle Übungen mit perfekter natürlicher Anmut ausführte. Sie und ich sahen unserer Mutter unglaublich ähnlich. Wir hatten die gleichen dunkeln Locken und grünen Augen, wobei ihre einen etwas dunkleren Farbton als meine und Gabes hatten. Maggie war so in ihren Tanz versunken, dass sie ihre Umgebung gar nicht mehr beachtete. Sie war wieder einmal in ihre eigene Welt abgedriftet."Valerian!" Meine Mutter riss mich aus meinen Beobachtungen. "Anspannen!", sagte sie mit Nachdruck. Sofort tat ich wie mir geheißen und hielt die Luft an, während ich meine Bauch- und Rückenmuskulatur anspannte. Ich blickte in das Gesicht meines Spiegelbildes direkt vor mir und veränderte die Haltung meines linken Arms, weil er komisch ausgesehen hatte. Jetzt wurde zwar irgendeine Sehne in meinem Unterarm schmerzhaft gedehnt, aber damit kam ich klar. Schmerz machte mir nicht mehr besonders viel aus. Nicht nach Jahren des Ballets. Na gut, ich gebe zu, dass meine gelegentlichen Raufereien wohl auch etwas abgehärtet haben.
Meine Mutter stolzierte jetzt wieder die kurze Reihe ihrer drei Schüler entlang. "Wir gehen noch einmal alle Übungen durch, dann reicht es für heute. Gabriel, deine Füße!", ordnete sie an.
"Mist", murmelte mein Bruder. Zum Glück hatten wir diese lästige Ballettstunde gleich hinter uns. Der Unterricht ging zwar noch weiter, aber was danach kam, konnte ich wenigstens besser. Von uns dreien sogar am besten. Gegen meine Mutter hatte ich selbstverständlich noch keine Chance, aber ich glaubte fest daran, dass ich eines Tages nahezu unbesiegbar sein würde."Ihr könnt gehen!", rief Ma und klatschte in die Hände. Mit einem erleichterten Aufseufzen entspannte ich meine Glieder und lehnte mich an den großen Wandspiegel. Gabe sah mich an und kam auf mich zu. Er war ein gutes Stück größer als ich und sah schon sehr erwachsen aus. Ihm wuchs sogar schon ein Bart, den er mit Stolz trug. Er würde morgen sechzehn Jahre alt werden, während Maggie und ich erst vor kurzem dreizehn geworden waren. Ich beneidete ihn.
"Kommst du mit in den Garten, Zwerg?", fragte er.
"Irgendwann bin ich genauso groß wie du, wart's nur ab!", sagte ich bestimmt. "Sicher", erwiderte er grinsend. Tatsächlich war ich zur Zeit der Kleinste aus unserer Familie. Selbst Maggie war noch ein winziges Bisschen größer als ich.
"Erstmal möchte ich mich umziehen, dann reden wir weiter", entschied ich. Gabe nickte und lächelte Maggie zu, die eben zu uns stieß.
"Was heckt ihr beiden jetzt schon wieder aus, hm?", fragte sie und löste ihre wilde Lockenmähne aus dem Dutt, den sie immer während des Unterrichts trug.
"Wir wollten nur später in den Garten. Du kommst auch mit, richtig?", fragte mein Bruder während ich mich bückte und meine Schuhe vom Boden aufhob.
"Klar", antwortete sie und kämmte ihre Haare mit den Fingern durch.
Wenig später ging ich mit Maggie zu der riesigen, wahrscheinlich uralten Trauerweide, die mitten im weitläufigen Garten hinter unserem Landhaus wuchs.
Gabe stand schon wartend an den Stamm des Baumes gelehnt, wo ich ihn fast nicht sehen konnte, weil ihn die herabhängenden Äste versteckten, und döste scheinbar vor sich hin. Maggie und ich hatten unsere Ballettkleidung gegen weitere Hosen und Hemden getauscht. Gabe ebenso. Maggie hätte zwar gerne ein Kleid angezogen, aber aufgrund unseres nächsten Unterrichts ging das nicht.Wie einen Vorhang schob ich die Weidenruten beiseite, damit Maggie hindurchgehen konnte. Ich folgte ihr und gesellte mich neben Gabe. Maggie setzte sich auf unsere alte Schaukel, die etwas schief an einem dicken Ast hing. Eigentlich war sie auch nur ein Holzbrett an zwei Seilen. Wir hatten sie vor einigen Jahren selbst mit Material, das von einigen Renovierungsarbeiten übrig geblieben war, zusammen gebastelt.
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Vale
AkcjaIch habe in meinem Leben viel gesehen. Ich bin weit gereist, habe etliche Menschen getroffen. Ich habe etliche Menschen getötet. Ich habe mehr verloren, als ich zu besitzen glaubte. Meine Geschichte ist keine schöne. Sie ist kein Märchen und kein...