35 ~ ۷ɛɩ۷ɛɬ

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Lange konnte ich nicht an der Reling stehen bleiben. Es wurde später, und mir fiel ein, dass sich die Zeit näherte, zu der Velvet mir normalerweise mein Abendessen brachte.
Als hätte ich es gewusst, konnte ich nur wenige Minuten nach dieser Feststellung ihre leichten Schritte und kurz darauf ein erschrockenes Aufatmen von ihr hören. Ich wandte mich um und grinste sie an.
"Wie... Wie hast du dich befreit?", fragte sie überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, aber sie schien auch nicht besorgt. Warum auch? Selbst wenn ich hätte fliehen wollen, wo sollte ich denn hin, wenn wir uns mitten auf offener See befanden?
"Das verrate ich dir nicht", sagte ich überheblich. "Aber nochmal lasse ich mich sicher nicht festbinden. Ich hatte keine Lust mehr auf das Angestarrtwerden, und auf dem Boden zu schlafen ist auch nicht sehr bequem."
"Stimmt, das ergibt Sinn", seufzte sie und lehnte sich neben mir an.
"Wie?", wunderte ich mich. "Willst du nicht einmal versuchen, mich wieder einzufangen?"
"Warum sollte ich? Du siehst nicht so aus, als würdest du wegschwimmen wollen. Kannst du überhaupt schwimmen?"
"Aber natürlich. Du nicht?"
Sie schüttelte den Kopf. "Es gab nie einen Grund, es zu lernen. Ich halte mich meistens stehend auf."
Oder liegend, wenn es nach mir ginge, dachte ich, ließ mir aber nichts anmerken. "Wir hatten einen See auf dem Grundstück, auf dem ich aufgewachsen bin. Ich war oft schwimmen."
"Hmm", machte sie anerkennend und blickte aufs dunkle Meer hinaus, was mir genügend Zeit verschaffte, um sie ein weiteres Mal zu bewundern. Ehe es zu offensichtlich wurde, wandte ich ebenfalls den Kopf und folgte ihrem Blick. Das Wasser hatte in dieser Nacht etwas undenkbar Bedrohliches. Seine Oberfläche schien beinahe schwarz, und sie spiegelte nur stellenweise das Licht der wenigen Sterne am Himmel wieder. Ich wagte es gar nicht, mir auszumalen, welche Monster und Grausamkeiten unter ihr schlummern könnten. Ich sage nicht, dass ich an Seeungeheuer glaube, aber es kann auch niemand beweisen, dass sie nicht existieren. Immerhin scheint der Ozean so unendlich, da ist es doch wohl zu erwarten, dass es mindestens ein Wesen gibt, dem man lieber niemals begegnet. Aber was erzähle ich dir vom Meer? Das kennst du selbst gut genug.
"Und", fragte Velvet auf einmal mit einem belustigten Unterton, "was möchtest du jetzt mit deiner neu gewonnenen Freiheit anstellen? Besonders weit gehen kannst du ja nicht."
"Ich hatte auch nicht vor, erstmal durch die Gegend zu rennen", brummte ich.
"Ach nein? Sondern?" Sie klang niemals so, als würde sie wirklich ernst sein. Der Schalk war immer aus ihrer Stimme herauszuhören. Das gefällt mir, denn es fällt mir selbst viel leichter, mich in der Nähe solcher Leute zu entspannen. Ja, stell dir vor, selbst ich bin manchmal entspannt. Schön, dass dir das schon aufgefallen ist. Wir kennen uns ja erst seit fünf Jahren. Gut, zurück zur Geschichte.
"Also zuerst freue ich mich darüber, wieder Blut in den Händen und Füßen zu haben", seufzte ich und wandte den Blick vom Horizont auf meine Finger. Dabei fiel mir auf, dass Velvet mich aus dem Augenwinkel musterte. Ich fing den Blick aus ihrer hellbraunen Iris auf und sagte dabei grinsend: "Als zweites bin ich froh, nicht mehr auf dem Boden schlafen zu müssen."
Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. "Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen. Alle Betten sind belegt."
"Ach verdammt", fluchte ich. Ich hatte mich wirklich auf eine komfortablere Nacht gefreut. Hast du mal drei Nächte lang gefesselt auf Holz geschlafen?
"Oh, tut mir leid", begann sie mitleidig. Bevor ich dir sage, wie sie mich danach genannt hat, musst du mir hoch und heilig schwören, diesen Namen niemals in den Mund zu nehmen. Und du darfst erst recht nicht Gabe oder irgendwem davon erzählen, klar? Sonst kann ich für niemandes Sicherheit garantieren. Hast du mich verstanden? Du musst es schwören. Auf deine Ehre.
Richtig, sie sagte also: "Tut mir leid, Vivi."
Gott, mir wird schon schlecht. Ich hätte dir das nicht sagen sollen. Du wirst mich das niemals vergessen lassen.
Ich habe keine Ahnung, wie sie darauf kam, mich so nennen zu müssen, aber sie tat es.
Bei der Erwähnung dieses Namens zogen sich meine Brauen zusammen und meine Mundwinkel nach unten, ehe mein Ausdruck in einen der vollkommenen Anwiderung wandelte. Ich riss meine Augen auf und starrte Velvet an, die ob meiner Reaktion kaum noch an sich halten konnte und prusten musste.
"Wie hast du mich gerade genannt?", fragte ich brodelnd.
"Vivi", wiederholte sie unbeeindruckt.
"Ah!", rief ich und hielt mir die Ohren zu. "Sag es doch nicht nochmal! Sag es nie wieder!"
Ich finde Vale als Kurzform meines Namens schon grenzwertig, aber das kann ich noch verstehen. Valerian ist lang und umständlich, Vale geht eben leichter. Schön und gut. Aber wenn mich noch einmal jemand Vivi nennt, werde ich mich vom Dach schmeißen müssen. Meine Toleranz ist sehr klein, was das angeht.
Velvet tippte mir auf die Schulter, als ich mich weiterhin weigerte, ihr zuzuhören.
"Was?", fragte ich bissig.
"Ich möchte dir ein Angebot machen."
Ich hob eine Augenbraue und signalisierte ihr damit, weiter zu sprechen.
"Es sind zwar keine Betten mehr frei, aber in meinem ist Platz für Zwei."
Ich wurde hellhörig. Scheinbar waren meine Gedanken mehr als offensichtlich, denn Velvets Lippen krümmten sich zu einem überlegenen Lächeln.
"Denk aber nicht, dass ich dich einfach so bei mir schlafen lasse. Wenn ich dich unter meine Decke lasse, musst du mir im Gegenzug auch einen Gefallen tun."
"Woran hast du gedacht?", fragte ich mit mehr Enthusiasmus.
"Du lässt mich dich weiter Vivi nennen."
"Warum?!", schauderte ich. "Warum hast du dich ausgerechnet daran festgebissen?!"
"Weil es so lustig ist, wie es dich jedes Mal schüttelt."
"Mal angenommen, ich schlage dein Angebot aus. Du wirst sowieso nicht aufhören, mich so zu nennen, oder?"
"Nein", trällerte sie. Ich seufzte.
"Wenn das so ist, habe ich ja nichts zu verlieren", murmelte ich.
"Also, ist das ein Ja?"
"Ja", grummelte ich.
Sie streckte ihre porzellanweiße Hand aus und hielt sie mir entgegen. Ich ergriff sie und ließ zu, dass sie ihre feingliedrigen Finger mit meinen verschränkte und mich unter Deck zog.
Passiert das gerade wirklich?, fragte ich mich. Oder ist das nur ein Traum?
Selbst als sie mich rücklings auf das Bett in ihrer kleinen Kajüte schubste und ich vollständig die Kontrolle über meinen Körper zu verlieren schien, zweifelte ich an meiner Wahrnehmung. Dass sie sich auf meinen Schoß setzte, mein Gesicht in ihre Hände nahm, sich zu mir hinab beugte und ihre Lippen auf meine presste, half auch nicht dabei, meine Verwirrung zu mindern.
Hilfe, dachte ich, unfähig mich zu wehren. Was passiert hier gerade?
Velvet ist nicht die Art Frau, die lange zögert, ehe sie sich nimmt, was sie will. Ich war keine Ausnahme. Sie war nicht besonders beeindruckt oder begeistert von mir. Ich war nur gerade ausreichend, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken.
Ich wusste schon damals, dass ich mir nichts darauf einbilden sollte. Dass ich nicht von ihr erwählt worden war. Wenn ich Recht habe, dann spürte sie genau das Gleiche wie ich. Einsamkeit. Vielleicht waren wir beide einfach nur bereit, so weit und noch weiter zu gehen, um uns nicht ganz so alleine vorzukommen. Jedenfalls für eine Weile.
Und ich fühlte mich gut. Ja, es fühlte sich gut an, ihre Haut auf meiner zu spüren und sie einfach nur in meinen Armen zu halten. Ihren Herzschlag und ihre Atmung zu hören, während sie auf meiner Brust einschlief. Während meine eigenen Lider schwerer wurden, vergaß ich die ganze Last auf meinen Schultern. Nur kurz kam ich mir leicht vor, als ich die Grenze zum Land der Träume überschritt.

Zum ersten Mal seit einer sehr langen Zeit schlief ich die Nacht durch, ohne durch irgendetwas geweckt zu werden. Endlich war ich mal ausgeschlafen und erholt. Velvet war fort, als ich erwachte. Dann musste ich wirklich tief geschlafen haben, wenn sie sich aus meinen Armen befreien konnte, ohne dass ich es merkte. Ich hatte sie nicht wirklich loslassen wollen.
Ich gähnte und rollte mich auf die Seite, dann setzte ich mich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Meine Kleider waren kreuz und quer in der Kajüte verteilt, darum dauerte es eine Weile, bis ich sie eingesammelt hatte und mich präsentabel hergerichtet hatte.
Noch dabei mein Hemd zuzuknöpfen, trat ich aus Velvets Zimmer und stieg die Treppe hinauf auf das Deck des Schiffes. Ich blickte mich um, strich mir dabei einige widerspenstige und viel zu lange dunkle Haarsträhnen aus der Stirn und war überrascht, Festland zu sehen. Auf beiden Seiten des Schiffes. Wir mussten in der Nacht den Ozean verlassen und die Seine erreicht haben. Weit konnte es also nicht mehr sein. Bald würden wir Paris erreichen. Ich war in Frankreich. Das Land meiner Vorfahren. Ein Lächeln trat auf meine Lippen, verschwand aber beinahe augenblicklich wieder, als ich hinter mir ein aufgeregtes "Vivi!" vernahm. Ich stöhnte genervt und fuhr herum. Zwar störte mich dieser Name unermesslich, aber ich sage es mal so, die Nacht war das auf jeden Fall wert. Würde sich die Chance noch einmal auftun, würde ich sie ohne zu zögern ergreifen. Nein, nein, jetzt natürlich nicht mehr! Aua!
"Was?!", rief ich Velvet missmutig zu, die am Bug des Schiffes stand. Ihre roten Locken wehten in der Brise und sie winkte mich aufgeregt zu sich.
"Komm her!", verlangte sie.
Ich rollte mit den Augen, stapfte aber dennoch auf sie zu. Als ich in Reichweite kam, griff sie mich am Oberarm und schob mich an die Reling, wobei sie mich beinahe ins Wasser darunter schubste.
"Immer mit der Ruhe. Was ist nur in dich gefahren?", fragte ich erschrocken und drehte den Kopf zu ihr. Sie legte ihre Hände an beide Seiten meines Gesichtes, quetschte dabei meine Wangen zusammen und zwang meinen Blick wieder nach vorne.
"Sieh nur", hörte ich ihre, nun wieder tief und samtig, aber auch ein winziges Bisschen heiser klingende, Stimme neben meinem rechten Ohr. Ich tat ihr den Gefallen und riss kurz darauf erschrocken die Augen auf. Nicht weit vor mir erhob sich auf beiden Seiten des Flusses eine große Stadt. Die Seine spaltete sich in einiger Entfernung um eine Insel und teilte die Stadt in zwei Hälften.
"Paris", murmelte Velvet und ließ ihre Hände sinken, bis ihre Arme um meine Taille geschlungen waren und auf meinen Hüften ruhten. Dabei presste sie sich an mich. "Wir sind fast da."
"Das ist unglaublich", hauchte ich. Ich hatte die Stadt nie mit eigenen Augen gesehen. Sie war beeindruckend. Ich will sie dir zeigen. Ich will dir so viel zeigen.
"Ich war ewig nicht mehr hier. Seit Wochen suche ich nach dir."
"Wirklich? Warum dieser Aufwand? Ich bin doch nichts Besonderes."
"Nein, das bist du nicht", sagte Velvet, was mich empörte, obwohl ich es als erstes gesagt hatte. Vielleicht wollte ich nur, dass sie mir widerspricht. "Deine Mutter... Sie war etwas Besonderes. Für jeden, der sie getroffen hat, aber für meinen Meister ganz besonders. Man sagt, er habe sie geliebt, obwohl es niemand wirklich weiß. So oder so, sie standen sich sehr nahe. Kannten sich jahrelang. Bis sie verschwand. Ich glaube ja, dass sie Meister für diesen englischen Nobelmann verlassen hat, aber er weigert sich, das zu glauben. Er sucht schon lange nach ihr, hat sie aber erst vor vier Jahren gefunden, kurz bevor sie verschwand. Seitdem sucht er nach dir. Er wird mich sicherlich loben, weil ich dich zu ihm bringe", sagte Velvet, ihre Stimme geschwollen vor Stolz. Ich brauchte eine Minute, bis ich diese neuen Informationen verdaut hatte. Nie war mir so bewusst, dass es meine Mutter ein anderes Leben als eben das meiner Mutter geführt hatte. Es gab, gibt, so viel, was ich nicht über sie weiß. Ich werde nie aufgeben, nach ihr und ihren Spuren zu suchen. Ich muss wissen, wer sie war. Woher sie kam. Wohin sie gegangen ist.
"Hat dein Meister einen Namen?", fragte ich finster. Er war meine neue Spur, mehr über Ma erfahren zu können.
"Natürlich, aber es gibt nicht viele, die ihn damit ansprechen."
"Wie heißt er? Ich werde ihn nicht Meister nennen", spuckte ich aus.
"... Mayhew", sprach Velvet nach einem kurzen Zögern.
"Mayhew", wiederholte ich, aber der Name weckte nichts in mir. Ich hatte ihn noch nie gehört. Ma sprach nicht gerne über ihre Vergangenheit. "Was für ein Meister soll er überhaupt sein? Warum nennst du ihn so? Was bist du? Was seid ihr?"
"Ich bin eine Assassine. Mayhew ist das Oberhaupt des Ordens hier in Europa."

Velvet
Assassine und Gefährtin Valerian Pricefields

2.068 Wörter

ValeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt