Schon kurz bevor ich aufwachte, konnte ich ein heftiges Pochen in meinem Schädel spüren. Du weißt sicherlich genauso gut wie ich, wie scheiße sich das anfühlt.
Ich stöhnte und regte mich. Ich lag auf dem Rücken auf einem harten Untergrund, der sich bewegte, und konnte nichts sehen. Man hatte mir die Augen verbunden, und das war nicht einmal alles. Als ich mich nämlich aufsetzen wollte, stellte ich fest, dass meine Hände und Füße gefesselt waren. Noch dazu waren die Fesseln irgendwo angebunden, so dass ich mich kaum bewegen konnte. Wer auch immer mich entführt hatte, wollte es wirklich nicht darauf anlegen, dass ich mich befreite. Ich konnte mir schon denken, dass sie mir sämtliche Waffen abgenommen hatten.
Ich überlegte, was ich jetzt machen sollte. Wenn ich Glück hatte, hatten meine Peiniger mein Notfallgift vergessen, dass ich auch mit gefesselten Händen erreichen konnte. Stellte sich diese Situation also als zu gefährlich oder unvorteilhaft für mich heraus, könnte ich mich immer noch umbringen, allerdings fiel mir auf Anhieb kein Grund dafür ein.
Warum könnten diese Leute mich gefangen genommen haben? Wollten sie Informationen über die Vipern? Nun, ich würde sie ihnen geben, ohne zu zögern. Ich hatte schon längst meiner Treue zu diesem Bund abgeschworen.
Wollten sie mich für irgendeinen Auftrag rekrutieren? Das war zwar unwahrscheinlich, wenn man meine Lage betrachtete, aber nicht unmöglich. Wenn sie wollten, dass ich jemanden umbrachte, würde ich auch das tun. Das war immerhin mein Beruf. Ist mein Beruf.
Vielleicht wollten diese Leute mich auch ausschalten, weil ich zu lange mein Unwesen getrieben hatte. Dann wäre es zwar eigenartig, mich durch die Gegend zu karren, bevor sie mich töteten, aber wer war ich denn, die Methoden anderer zu verurteilen?"Oh scheiße", ächzte ich, als das Nachdenken mir weitere Kopfschmerzen bereitete.
"Du bist wach", hörte ich die Stimme der Frau, von der ich ausging, dass sie es war, die mich in diese missliche Lage gebracht hatte.
"Ja, leider", knurrte ich und drehte mich auf die Seite. Ich hatte definitiv lange so dagelegen, denn so ziemlich jeder meiner Muskeln war verkrampft und machte sich deutlich bemerkbar, als ich mich bewegte. "Wo bin ich?"
"Auf einem Schiff", antwortete sie, und ich konnte hören, dass sie sich mir näherte. "Du warst ziemlich lange weg."
"Ich weiß", sagte ich und versuchte sie zu ignorieren. Ihre Nähe war mir aufgrund meiner Blindheit unangenehm. "Wo fahren wir hin?"
"Nach Paris."
"Klasse, ich wollte sowieso nach Frankreich." Ich gähnte.
"Wirklich?", fragte sie überrascht.
"Ja", antwortete ich. "Hättest du mir gesagt, dass du mich nach Frankreich bringen willst, wäre ich auch so mitgekommen. Dann hättest du mir nicht ins Gesicht treten müssen."
"Ach, das habe ich nicht gewusst. Deine Nase ist übrigens gebrochen."
"Hab ich mir gedacht", seufzte ich und schniefte. "Gibt es irgendeinen Grund dafür, dass ich gefesselt bin?"
"Ja, ich dachte du würdest vielleicht fliehen wollen, wenn du aufwachst."
"Nicht wirklich. Kannst du mich losbinden?"
"Nein, tut mir leid."
"Schade", sagte ich und ließ meinen Kopf wieder fallen. Sie schwieg.
Kurz darauf merkte ich, wie mein Kopf angehoben wurde und der Stoff um meine Augen verschwand. Von hellem Sonnenlicht geblendet wandte ich mein Gesicht zum Boden und presste meine Lider zu. Es war so hell.
"Alles in Ordnung?", fragte die Frau mich. Sie hockte vor mir, ihre Hand noch leicht in meine Richtung ausgestreckt. Ich blickte zu ihr auf, obwohl meine Augen gegen die Helligkeit protestieren. Sie hatte ihre Kapuze abgesetzt, und ich konnte nun sehen, dass sie helle, von Sommersprossen gesprenkelte Haut und hellbraune Augen hatte. Ihr feuerrotes Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern.
Ich starrte sie an. Ich wusste das, aber ich konnte nicht anders. Ihr Anblick löste etwas in mir aus, was ich nur als Verlangen beschreiben kann. Natürlich war das unpassend, immerhin lag ich gefesselt zu ihren Füßen, und sie hatte mir Stunden vorher die Nase gebrochen und mich entführt, aber eigentlich nahm ich es ihr nicht übel.
Ich wandte endlich den Blick ab und biss mir auf die Unterlippe, um die Situation nicht noch eigenartiger zu machen. Sie schien das nicht zu stören, denn sie sah mich weiter an. Ich war mir beinahe sicher, in ihren Augen ein ähnlich tiefes Interesse zu sehen. Gott, was ich getan hätte, wenn meine Hände in diesem Moment nicht gefesselt wären.
"Also, ähm... Wie heißt du?", fragte ich, als mir das Schweigen zu lange andauerte. Sehr kreativ, ich weiß. Ich musste es aber wissen. Eine Schönheit wie sie musste einen ebenso wohlklingenden Namen haben. Ach ja, falls dich diese Schwärmerei jetzt schon nervt, tut es mir sehr leid für dich, denn da kommt noch eine ganze Menge. Verzeih mir.
Die Rothaarige legte den Kopf schief und stand auf, gab mir aber keine Antwort. Ich legte den Kopf in den Nacken und bewunderte ihre Figur. Sie trug eine elegant geschnittene enge Hose aus rotem Samt, die die Länge ihrer Beine betonte. Eine lockere weiße Bluse hüllte ihren Oberkörper ein und ließ die Formen darunter nur erahnen, aber ich hatte kein Problem damit, sie mir in allen Einzelheiten auszumalen. Ich fragte mich, wie sich ihre Haut wohl anfühlte.
"Starrst du alle Menschen so an? Von dir hätte ich bessere Manieren erwartet", sagte sie und zog meinen Blick so auf ihre vollen Lippen, die nur dazu einluden, geküsst zu werden.
"Nur die schönen", sagte ich mit einem verschmitzten Grinsen und stellte endlich wieder den Augenkontakt her. Mir war klar, dass ich gefesselt und am Boden liegend nicht gerade die besten Chancen bei ihr hatte, noch dazu war sie gut und gerne sieben Jahre älter als ich, aber sie schien das nicht so eng zu sehen, denn sie lächelte mich an.
"Wirklich charmant", schnurrte sie und stellte ihren Fuß auf meine Brust. "Wenn ich nur nicht wüsste, dass du diesen Spruch schon dutzende Male gebracht hast."
"Diese Aussage werde ich weder bestätigen noch verneinen." Ich hob die Augenbrauen und blickte mich um. "Du hast mir deinen Namen noch nicht gesagt. Ich bin-"
"Ich weiß wer du bist, Valerian. Ich weiß alles über dich", unterbrach sie mich.
"Das glaube ich nicht. Es gibt mit Sicherheit die eine oder andere Seite an mir, die du noch nicht gesehen hast. Aber keine Sorge, ich werde sie dir gerne zeigen." Damit brachte ich sie zum Lachen, aber ich denke nicht, dass sie mich auslachte. Sie fühlte sich wohl einfach gut unterhalten. Hoffentlich.
"Ach wie niedlich", kicherte sie. "Ich mag dich. Nenn mich Velvet."
"Velvet wie Samt?", fragte ich und musterte ihre Wade vor meiner Nase, die in eben diesem Stoff eingehüllt war.
"Ja, das ist zu meinem Markenzeichen geworden." Sie stellte ihren Stiefel wieder auf den Boden.
"Interessant. Gefällt mir."
So oder so ähnlich liefen alle unserer Konversationen ab, während wir auf dem Schiff reisten. Ich verdammte immer wieder meine Fesseln, die mich daran hinderten, mich aufzusetzen oder irgendwie anders zu bewegen. Meine Hände waren schon ganz taub von der Straffheit der Seile.Eines Abends war ich wieder alleine und starrte in den Himmel, wobei mir auffiel, dass ich seekrank wurde. Ich hatte mich schon in den vergangenen Tagen nicht besonders wohl gefühlt, aber es wurde immer schlimmer. Ich konnte es weder durch Ablenkung noch Bewegung bekämpfen, weshalb mir langsam wirklich speiübel wurde. Ich schnaubte missbilligend und verfluchte die Schäfchenwolken, die über mir dahinzogen, hielt aber inne, als ich Schritte auf dem Deck hörte, die sich in meine Richtung bewegten. Ich wandte den Kopf und erblickte einen jungen Matrosen von vielleicht dreizehn Jahren, der eine Kiste über das Schiff trug.
"He Kleiner", rief ich leise. Er blickte erschrocken zu mir und blieb stehen. "Wie viel muss ich dir bezahlen, damit du mich losbindest?", fragte ich.
"Die Frau hat gesagt-"
"Ich weiß, was sie gesagt hat. Ich werde schon niemanden umbringen, und ich verspreche dir, dass niemand hiervon erfährt. Wirklich, du kannst mir vertrauen. Ich werde selber gerade entführt."
Zögerlich stellte der Junge seine Kiste ab und kam näher.
"Das bleibt unter uns, keine Sorge", flüsterte ich und versuchte möglichst unschuldig auszusehen.
"Und wenn ich doch in Schwierigkeiten komme?", fragte er besorgt.
"Dann schalte ich diese Schwierigkeiten für dich aus", versprach ich. "Hör zu, wenn du mir diesen kleinen Gefallen tust, hast du etwas bei mir gut. Wie heißt du?"
"J-Jeremy", stammelte Jeremy.
"Gut Jeremy. Ich bin Vale. Hilfst du mir?"
"Ich weiß nicht", murmelte er und wich meinem Blick aus.
"Ich werde dich nicht dazu zwingen, aber du kannst mir vertrauen."
Jeremy schien noch eine Weile lang mit sich zu kämpfen, dann fällte er eine Entscheidung. Er trat um mich herum und begann mit den Fesseln an meinen Händen. Ich seufzte erleichtert und lächelte.
"Vielen Dank", sagte ich, als ich frei war und mich aufgerichtet hatte. Ich klopfte Jeremy auf die Schulter und griff nach dem Geldbeutel an meinem Gürtel. Ich hatte keine Ahnung, wie viel darin war, aber er fühlte sich noch recht schwer und voll an. Es war mir egal, ich drückte Jeremy alles in die Hand. Damit sollte er für eine Weile ausgesorgt haben. "Wenn es jemals etwas gibt, was ich für dich tun kann, dann frag nach Viparo oder Valerian Pricefield. Ich bin für alles zu haben", sagte ich schmunzelnd und zwinkerte ihm zu.
"D-Danke", stotterte er und nahm überfordert das Geld entgegen. Ich ließ ihn mit seinem neuen Schicksal zurück und drehte eine Runde über das Deck des Schiffs, wobei ich meine Glieder streckte und meine Bewegungsfreiheit genoss.
Ich lehnte mich an die Reling und sah mich in alle Richtungen um, aber ich konnte weit und breit kein Land entdecken. England schien schon weit hinter uns zu liegen. Ich schloss die Augen und lächelte, während ich mein Gesicht in die untergehende Sonne reckte. Ich spürte eine neue Art von Freiheit. Meine Heimat zu verlassen war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Sie wurde mir zwar am Ende aus der Hand genommen, aber ich wäre dennoch nicht geblieben. Zu viele schlimme Erinnerungen waren mit diesem Ort verbunden, ich war so froh, ihn endlich hinter mir zu lassen. Ich dachte an meine Schwester, meinen Bruder, meine Eltern. Ich vermisste sie. So sehr. Aber das war kein Grund, in England zu bleiben. Ich hatte sie schon verloren, es machte keinen Unterschied, ob ich dort oder irgendwo anders war. Sie würden nie weit weg von mir sein, denn ich trug sie in meinem Herzen, wo auch immer ich war.verlassen
weg-, fortgehen aus, von etwas1.719 Wörter
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Vale
AçãoIch habe in meinem Leben viel gesehen. Ich bin weit gereist, habe etliche Menschen getroffen. Ich habe etliche Menschen getötet. Ich habe mehr verloren, als ich zu besitzen glaubte. Meine Geschichte ist keine schöne. Sie ist kein Märchen und kein...