Mit wachsender Neugierde sah ich in den Raum, wagte mich näher an den Türrahmen heran. Alchemie. Dieser Begriff hatte für mich damals noch keine besondere Bedeutung. Es interessierte mich eher der Labor-Teil. Die Alchemie selbst war für mich nur Quacksalberei. Brot in Gold verwandeln und solche Dinge. Aber ich hatte ja keine Ahnung. Ich lag so falsch.
Das Labor bot einen traurigen Anblick. Alle filigranen Gerätschaften und Werkzeuge, die dort auf langen Werkbänken standen, waren komplett verstaubt und vernachlässigt. Die wenigen getrockneten Pflanzen und anderen teuren Zutaten, die noch in den Schränken und Regalen lagen oder zum trocken von der Decke hingen, sahen so aus, als könnte eine einzige Berührung zu Asche zerfallen lassen. Ein Alchemist war hier wirklich schon ewig nicht mehr gewesen, und der Zahn der Zeit hatte mächtig an diesem ehemals edlen Raum genagt.
Ich drehte mich ganz langsam um meine eigene Achse und ließ meinen Blick überall hinwandern, bis ich wieder bei Mark und Maggie ankam, die noch im Türrahmen standen. Meiner Schwester konnte ich ansehen, dass sie meine innere Aufregung spürte, obwohl ich selbst dieses Gefühl nicht ganz erklären konnte.
Mark hingegen schien genau so wartend und ungeduldig wie sonst auch.
"Was ist denn hier passiert?", fragte ich und gab mich lässig. "Habt ihr die Suche nach dem Stein der Weisen etwa aufgegeben?"
Mark schnaubte verächtlich. "Das kann man so sagen. Wir haben schon seit Jahren keinen guten Alchemisten mehr. Niemand scheint diese Kunst mehr ernstzunehmen. Dabei geht es dabei um so viel mehr als die aussichtslose Jagd nach Reichtum und Unsterblichkeit. Alchemisten sind Gelehrte, Naturphilosophen und sogar Mediziner. Ich würd' mich vielleicht näher damit beschäftigen, wenn der Tag mehr Stunden hätte. Ich hab einfach keine Zeit. Aber wer weiß, vielleicht kennt sich ja einer von euch damit aus? Ärzte und Giftmischer können wir immer gebrauchen. Wir haben so viele Verletzte. Ist ein gefährlicher Beruf. Auftragsmörder, meine ich", stellte er klar.
Maggie schielte kurz zu ihm und warf mir dann einen vielsagenden Blick zu.
"Sag's ihm", las ich darin, aber ich war mir nicht ganz sicher, was sie damit meinte. Ja, ich kannte mich gut mit Pflanzen aus. Den heilenden sowie den giftigen. Aber das allein machte mich doch noch lange nicht zu einem qualifizierten Alchemisten oder gar Arzt.- Hä, ich bin gar nicht bescheiden. Du weißt genau, dass ich alles andere als das bin. ... Nein, das Problem war, dass ich schlicht und ergreifend kein Vertrauen in meine Fähigkeiten hatte. Weißt du, mit zwei hochbegabten Geschwistern war ich nicht daran gewöhnt, tatsächlich gut in etwas zu sein. Also, so richtig einzigartig gut, meine ich. Normalerweise stand ich immer in irgendjemandes Schatten. ... Ach was! Fechten! Willst du meinen Kampfstil etwa ernsthaft als Fechten bezeichnen? ... Na, siehst du? Und ich habe wirklich schon immer so gekämpft. Liegt im Blut, schätze ich. ... Jetzt willst du's aber auch wissen, oder? Na gut, dann sag mir mal, worin ich so richtig gut bin. Sowas höre ich ja immer gerne. ... Reiten? Ja, ich schätze das kann ich ganz gut. Aber darin bist immer noch du die Beste. ... Schon gut, schon gut! Aua! Ja, ich nehm's zurück! Obwohl es stimmt. Au! Schlag mich noch einmal und du wirst es bereuen. ... Das hast du jetzt nicht gesagt! Was im Schlafzimmer passiert, das bleibt auch im Schlafzimmer, darauf hatten wir uns geeinigt. Obwohl, da war doch dieses eine Mal auf meinem- Ähm! Naja, ist ja auch egal. Zurück zur Geschichte! -
Gut, der Moment, in dem ich mit meinem Wissen hätte prahlen können, war ganz schnell wieder vorbei, als Mark seinen Kopf aus dem Raum zog und uns wieder zum Folgen aufforderte. Maggie sah mich enttäuschter an als ich mich fühlte, als sie den Raum verließ.
Aber ich würde wiederkommen. Das beschloss ich, als ich die Tür des Labors hinter mir schloss und zu Mark aufholte.
"Wo gehen wir jetzt hin?", fragte Maggie gerade.
"Zu Gabe. Wolltet ihr in nicht besuchen?", sagte Mark leicht verwundert.
"Richtig! Wir wollten uns gerne mit ihm unterhalten. So schnell wie möglich, wenn's geht", mischte ich mich ein.
"Ist nicht weit", murmelte er und beschleunigte seine Schritte.
Als wir an einer Treppe ankamen und diese zu den Kerkern hinunterstiegen, deutete Maggie nach oben und fragte: "Wo führt die hin?"
"Ach, nur zu Schlafräumen und Zimmern von Schwarzen und Blauen. Die Grünen und Kobral wohnen auch da oben. Wenn ihr eure Ausbildung abschließt, könnt ihr auch im zweiten Stock einziehen", erklärte Mark und führte uns in die Dunkelheit der Gewölbe unterhalb des Klosters. Weil das Licht hier so spärlich war, schnappte er sich eine Fackel aus einer Wandhalterung und beleuchtete unseren Weg.
Im Gegensatz zu der Lebendigkeit oben war es hier unten fast unheimlich. Man hörte nur das Feuer der Fackeln leise Knistern und hin und wieder klatschte ein fetter Wassertropfen laut auf den Steinboden unter unseren Füßen.
"Gemütlich", murmelte ich und meinte das Gegenteil.
"Nun, wie du siehst sind äußerst selten Leute hier", sagte Mark und deutete auf die Zellen zu unserer Rechten, die allesamt leer waren. "Man muss schon großen Mist bauen, um hier eingesperrt zu werden.
Klingt nach Gabe, dachte ich und blieb stehen, als Mark ebenfalls anhielt. Er streckte den Arm mit der Fackel aus und beleuchtete so die Zelle, vor der wir standen. Sie war spärlich eingerichtet.
An der Wand hing eine Pritsche, in einer Ecke stand ein Eimer und ansonsten war sie leer. Abgesehen von der Person, die ausgestreckt auf der Pritsche lag und gleichmäßig atmete. Das war wohl Gabe. Er hatte sich seine Kapuze aufgesetzt und die Fackel spendete zu wenig Licht, als dass man sein Gesicht erkennen könnte.
"Ihr habt zehn Minuten. Reinlassen kann ich euch nicht, aber ich lass euch alleine. Hier", sagte Mark und drückte Maggie seine Fackel in die Hand. "Ich geh schonmal wieder vor und warte beim Ausgang auf euch." Damit wandte er sich ab und verschwand mit wehendem Umhang in der Dunkelheit des Ganges.
Wir sahen ihm nur kurz nach, bevor wir unsere Aufmerksamkeit auf Gabe in seiner Zelle richteten.
"He Gabe", rief ich flüsternd in seine Richtung. Nichts geschah, also erhob ich meine Stimme und rief seinen Namen ein weiteres Mal. Als er wieder nicht reagierte, trat ich an die Zellentür und rüttelte an den Gitterstäben.
Das machte ordentlich Lärm und reichte anscheinend aus, um ihn aufzuwecken, denn er grunzte einmal unzufrieden, stand hörbar auf und tauchte wenig später in den Lichtkegel der Fackel ein, die Maggie trug.
Ein Ausdruck von Enttäuschung trat in seine Augen, als er uns erkannte.
"Ihr seid hier", sagte er statt einer Begrüßung. "Ich hatte wirklich gehofft ihr würdet es nicht tun."
"Tja, dein Versuch und davon abzuhalten, ist offensichtlich schiefgegangen", sagte Maggie bitter.
"Zu schade", sagte unser Bruder und trat einige Schritte zurück. Sein Gesicht konnten wir jetzt nicht mehr sehen. "Wo wohnt ihr?"
"Neben dir", gab ich ihm als Antwort.
"Gut", sagte er finster. "Wenigstens etwas. Hört zu, ich muss euch etwas sagen. Ihr wisst über die Aufnahmeprüfung bescheid?"
Maggie und ich nickten. Wir wussten, dass er uns sehen konnte, obwohl er selbst verborgen blieb.
"Nein, das wisst ihr nicht. Sie ist eigentlich gar nicht so schwer. Eine Art Hürdenlauf und ein paar Kampfübungen. Sehr einfach. Aber dann ist da die letzte Aufgabe, die ihr bekommen werdet", begann er.
"Was ist damit?", fragte ich, als er nicht weitersprach. Bis jetzt hörte sich das doch ganz gut an. Ich wusste nicht, warum Gabe sprach, als wäre er auf der Beerdigung von Madison. Was war eigentlich mit der? Ich musste ihn bald nach ihr fragen. Jetzt würde ich jedoch erstmal ihn sprechen lassen.
"Nun, die letzte Aufgabe darf sich der Ausbilder selbst aussuchen."
"Ja, und?", fragte Maggie ungeduldig. "Komm bitte zum Punkt. Mark wartet auf uns und wir haben nicht ewig Zeit."
"Ah, ihr habt also tatsächlich ihn abbekommen", seufzte er. "Da habt ihr aber großes Pech."
"Wieso? Er ist doch voll in Ordnung", sagte Maggie gereizt.
"So scheint er vielleicht!", fauchte Gabe, machte einen Satz nach vorne und umklammerte krampfhaft zwei Gitterstäbe. Jetzt war er uns so nahe, wie er es in seiner Lage eben sein konnte. "Aber er ist stahlhart und eiskalt. Er will nichts weniger als euer Bestes sehen und wird euch laufend herausfordern."
"Na und? Wo ist das Problem?", zischte sie zurück und machte einen Schritt nach hinten.
"Was das Problem ist? Seine erste Aufgabe." Er sah jetzt zu mir, und es war, als würde ich mir selbst in die Augen sehen. "Er wird sofort herausfinden wollen, ob ihr hierfür geeignet seid, versteht ihr?"
"Nein, ich verstehe nicht, Gabriel. Spuck es doch einfach aus", forderte meine Schwester ihn auf, doch er wandte seinen Blick nicht von mir ab.
"Er wird euch zum Töten zwingen."Verhör, das
(zur Klärung eines Sachverhaltes) eingehend befragen; vernehmen1.446 Wörter

DU LIEST GERADE
Vale
AksiIch habe in meinem Leben viel gesehen. Ich bin weit gereist, habe etliche Menschen getroffen. Ich habe etliche Menschen getötet. Ich habe mehr verloren, als ich zu besitzen glaubte. Meine Geschichte ist keine schöne. Sie ist kein Märchen und kein...