Am Ende war der Magister doch noch aufgetaucht. Trotz meiner eisernen Hoffnungen auf sein Fehlen, hatte er uns zwei Stunden lang unter Zahlen und Rechenaufgaben begraben. Maggie fiel natürlich alles genauso leicht wie immer. Welch ein Wunder.
In den Momenten, in denen ich an einer Multiplikationsaufgabe verzweifelte, die sie in fünf Sekunden lösen konnte, beneidete ich sie sehr.
Der Magister war von ihr hellauf begeistert und strafte mich mit Aufgaben, die ich bis zur nächsten Stunde erledigen sollte. Niedergeschlagen verließ ich den Raum und starrte auf den Bogen Pergament, auf dem in feinsäuberlicher Handschrift die Aufgaben zu meiner Tortur aufgeschrieben waren.
Maggie legte mir eine Hand auf die Schulter. "Mach dir nichts draus. Ich helfe dir", sagte sie aufmunternd. Ich sah sie missmutig an.
"Warum fällt dir das alles so leicht und mir nicht?", fragte ich mit ehrlicher Frustration. Sie wich meinem Blick aus.
"Ich weiß es nicht, Vale. Aber eines Tages wirst du es auch können. Und selbst wenn nicht, das ist doch ganz egal. Du musst dich einfach auf die Dinge konzentrieren, in denen du gut bist. Wenn ich das auch mache, werden wir ein unschlagbares Duo."
Am Ende ihrer Rede lächelte sie mich an. Schon viel besserer Stimmung grinste ich zurück und deponierte meine Zwangsarbeit in dem Schlafzimmer, das ich mir mit Maggie und Gabe teilte. Das Pergament lag nun auf meinem Schreibtisch, direkt neben dem absurd dicken Buch über alle bekannten Tier- und Pflanzenarten der Region. Ich könnte dieses Werk auswendig aufsagen. Einige Einträge hatte ich sogar mit meinem eigenen gesammelten Wissen erweitert. Ich war über den großen Garten meines Geburtshauses ja so unendlich glücklich. In der Stadt gefiel es mir einfach nicht. Mein Herz schlug für die Natur. Schon immer. Am liebsten würde ich ganz alleine in einem Wald leben. So weit weg von jeglicher Zivilisation, dass niemand mich jemals stören könnte. Und dann wollte ich forschen, lernen, dokumentieren und lange Spaziergänge machen.
Ja, das war mein Traum, aber Vater hatte da andere Pläne. Er wollte, dass ich studieren gehe und Maggie sollte reich heiraten. Vor diesem Schicksal würde ich sie nur zu gerne bewahren und für ihr Wohl würde ich alles tun. Das konnte man ihr doch nicht wirklich zumuten.
Aber man hatte es wohl ernsthaft vor. Und das alles nur wegen unserer Abstammung. Die Pricefields waren schon seit Jahrhunderten eine sehr bekannte Adelsfamilie Englands.Ich gähnte und ließ mich auf mein Bett fallen. Maggie setzte sich neben mich.
"Hast du schon mal darüber nachgedacht, einfach abzuhauen?", fragte ich, obwohl ich ihre Antwort eigentlich schon kannte. Die Musterschülerin war doch viel zu gehorsam und vernünftig für solch eine dumme Tat. Umso überraschter war ich demnach, als sie sagte: "Ja, schon oft. Wo würdest du hingehen?"
Ich dachte angestrengt nach und legte meine Stirn in Falten. Gerade wollte ich etwas sagen, doch ich wurde von jemand anderem unterbrochen: "Ich auch. Ich würde in die Stadt gehen."
Ich sah auf. Gabe stand im Türrahmen.
"Du kannst ja morgen schon gehen", sagte ich verärgert.
"Jetzt sei doch nicht so griesgrämig", sagte er und zerzauste mir spielerisch die Haare, "Ich nehm euch mit. Versprochen."Nach dieser kurzen Unterhaltung nötigte Maggie uns dazu, wieder zum Unterricht zu gehen. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie schaffte ich es noch durch die Qual des restlichen Tages.
Jetzt saßen Maggie und ich mit einer kleinen Lampe auf meinem Bett. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, und das flackernde Licht sorgte für eine gemütliche Atmosphäre. Ich hatte mein Pflanzenbuch auf dem Schoß und blätterte es langsam durch. Maggie sah mir zu und stellte ab und zu Fragen zu den verschiedensten Blumen und Kräutern. Gabe lag auf der anderen Seite des Zimmers in seinem Bett und döste. Vermutlich würde es demnächst Essen geben.
"Die hab ich schonmal gesehen", sagte Maggie und deutete auf ein Kraut mit gezähnten Blättern und kleinen weißen Blüten.
"Oh, bei der musst du vorsichtig sein", sagte ich, "Das ist eine fiesere Verwandte der Brennnessel. Von den Blättern bekommt man den höllischsten Ausschlag. Das juckt stundenlang."
Sie starrte nachdenklich auf das Papier, auf dem die Pflanze geschickt abgebildet worden war.
"Sie ist hübsch", sagte sie und strich über eine aufgemalte Blüte. Ich nickte.
"Aber sie ist leider nur Unkraut."
"Hm. Schade."
"Wo hast du sie denn gesehen? Sie ist inzwischen recht selten geworden, weil die Brennnessel sie immer weiter verdrängt", erklärte ich. Sie sah auf und aus dem Fenster.
"Hinten im Garten. In der Nähe vom Teich."
Ich nickte wieder. Das war eine der wenigen Ecken, die noch etwas wilder wucherte. Ma liebte das Gärtnern. Sie machte auf unserem Grundstück fast alles selbst und duldete absolut kein Unkraut zwischen ihren Rosen und Chrysanthemen. Aber hinter den kleinen Ententeich war ihre Landschaftsliebe noch nicht vorgedrungen. Ich verbrachte dort gerne Zeit und studierte die freie Entfaltung der Natur in ihrer vollen Pracht.
Maggie blätterte um. Auf der nächsten Seite standen Fakten über Picea abies, die Gemeine Fichte.
Ich ließ sie lesen und träumte währenddessen vor mich hin, bis sie mich mit einer weiteren Frage wieder wachrüttelte: "Ist der Baum hinter dem Haus so eine?"
Ich blickte auf die Abbildung und dachte kurz nach, dann schüttelte ich den Kopf.
"Nein, das ist eine Picea obovata. Eine... Sibirische Fichte."
"Sibirisch? Wie kommt die denn hierher?" Ich lachte leise.
"Sie heißt nur so, weil sie dort entdeckt wurde und besonders häufig vorkommt oder so. Eigentlich ist sie überall im nördlichen Europa und Asien heimisch", murmelte ich.
"Verstehe", sagte sie nickend.
Wir machten noch eine Weile lang so weiter. Sie sah sich die verschiedenen Pflanzen an und fragte mich darüber aus.
"Was ist deine Lieblingsblume?", hörte ich mich plötzlich fragen.
"Krokusse, denke ich. Violette Krokusse. Ich mag diese Form und die Botschaft, die sie verkünden. Wie sie den Frühling begrüßen. Wenn es viele Krokusse gibt, wird es ein gutes Jahr", sagte sie. Ich lächelte.
"Stimmt, sie sind wirklich sehr schön."
"Und du? Welche magst du am liebsten?", fragte sie mich jetzt. Ich schnaubte belustigt.
"Es ist tatsächlich der Löwenzahn. Obwohl er auch nur ein Unkraut ist."
"Und warum?" Sie sah interessiert von dem Buch auf. Ich zuckte nur mit den Schultern.
"Mir gefällt die leuchtende Farbe. Und außerdem sieht er lustig aus, wenn er zu Pusteblumen wird." Maggie kicherte.
"Warum lachst du?", fragte ich leicht säuerlich.
"Ich musste nur daran denken, wie begeistert du vor ein paar Jahren durch die Wiese gerannt bist. Um dich herum flogen die Löwenzahn-Pollen wie verrückt durch die Gegend. Deine Haare waren voll davon. Mutter hat sie dir einzeln wieder rausgezupft." Bei der Erinnerung an diesen Tag musste ich ebenfalls lächeln.
"Stimmt, es war wie ein kleines Schneegestöber mitten im Sommer."
"Sommerschnee", murmelte Maggie andächtig, "Ein schöner Name für eine eigentlich schöne Blume. Schöner als 'Pusteblume'." Ich zog meine Augenbrauen in die Höhe und fragte kritisch: "Sommerschnee?"
"Ja, das passt doch viel besser", beharrte sie. Ich ließ mir den Namen durch den Kopf gehen und sprach ihn leise aus. Dann nickte ich entschlossen.
"Du hast Recht. Sommerschnee ist schöner." Sie lächelte glücklich und legte den Kopf schief. Ihre dunklen Locken, die ihr offen über den Rücken flossen und ihr Gesicht umspielten, wippten dabei leicht. Dann sah sie wieder in das Buch.
Außerhalb des Lichtscheins meiner kleinen Lampe hörte ich Gabe leise murmeln: "Sommerschnee? Ihr spinnt." Maggie hatte es auch gehört. "Ach, halt doch die Klappe und sei nicht so spaßbefreit", sagte sie, doch sie meinte es nicht wirklich so.
"Uff!", machte Gabe, "Hüte deine Zunge, Schwesterchen." Er stand ächzend auf und schlurfte barfuß zu uns. Maggie streckte ihm die Zunge raus.
"Macht mal Platz", sagte er. Ich rutschte nach rechts, Maggie nach links, und Gabe ließ sich zwischen uns auf mein Bett fallen.
"Was macht ihr hier eigentlich?", fragte er, nahm mir das Buch aus den Händen und überflog die aufgeschlagene Seite kurz, "Ahorn? Warum schaut ihr euch Bilder von Ahorn an?"
"Ach, das verstehst du nicht", sagte ich und nahm mein Buch wieder an mich. Ich schlug es zu und legte es auf den Nachttisch.Es klopfte an der Tür. Maggie, Gabe und ich standen gleichzeitig auf, aber ich war als erstes bei der Tür und öffnete sie.
"Guten Abend, Master Valerian", sagte das junge Dienstmädchen, das davor stand, und knickste. Sie hieß Kate und war wohl ungefähr zwei Jahre älter als ich. Mit ihren langen blonden Haaren und den rehbrauenen Augen fand ich sie sehr hübsch, aber sie war schüchtern.
"Hallo", sagte ich und lächelte charmant, "Weshalb erfreust du mich denn heute mit deinem Besuch?" Sie errötete und krallte sich in den Stoff ihres Kleides. Ich liebte es, sie in Verlegenheit zu bringen. Ihre Mutter war auch bei uns angestellt. Obwohl Kate noch so jung war, erlaubten wir ihr, hier zu arbeiten. Sie hatte schon früh ihren Vater verloren und konnte daher jeden Pence gebrauchen.
"Das Abendessen ist fertig", flüsterte Kate kleinlaut. Gabe schob mich aus dem Türrahmen, weshalb ich fast gegen sie prallte.
"Sei netter zu ihr Vale. Das ist unhöflich", sagte er tadelnd und lauter als nötig. Dann wandte er sich an Kate.
"Meinen besten dank, o holde Kate, für das Überbringen dieser gloriosen Botschaft", sprach er mit einem Pathos, für den ihn ein jeder Dichter beneidet hätte. Kates Kopf wurde rot wie eine Tomate und sie starrte auf den Boden.
"Eure Eltern warten im großen Esszimmer", presste sie noch hervor und eilte mit wehendem Haar davon. Ich lachte, als sie außer Hörweite war. Gabe stimmte mit ein, bis wir beide einen festen Klaps auf unsere Hinterköpfe bekamen.
"Ah!", machte er.
"Au!", machte ich.
Maggie war aus unserem Zimmer gekommen. Sie sah wütend aus.
"Ihr seid so unmöglich, Jungs! Wie kann ich nur mit euch verwandt sein? Reißt euch doch mal zusammen. Die arme Kate", sagte sie und sah in die Richtung, in die das Dienstmädchen verschwunden war. Ich muss schon zugeben, sie hatte mir ins Gewissen geredet und jetzt fühlte ich mich ziemlich mies. Ich versprach meiner Schwester, mich bei Kate zu entschuldigen, wenn ich sie das nächste Mal sah. Gabe winkte bloß ab, aber Maggie warf ihm ihren stechendsten Blick zu, bis er dasselbe schwor. Ich wusste jedoch, dass er das nur ihr zuliebe gesagt hatte und sich eigentlich kein Stück ändern würde.Versprechen, das; Plur. Versprechen
etwas jemandem verbindlich zusichern/erklären1.697 Wörter
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Vale
ActionIch habe in meinem Leben viel gesehen. Ich bin weit gereist, habe etliche Menschen getroffen. Ich habe etliche Menschen getötet. Ich habe mehr verloren, als ich zu besitzen glaubte. Meine Geschichte ist keine schöne. Sie ist kein Märchen und kein...