"Ich war nicht alleine", begann ich. "Meine Mutter hatte zwei weitere Kinder mit Richard. Ich habe also einen älteren Bruder, Gabriel, und eine Zwillingsschwester. Maggie."
"Von ihnen wusste ich nichts", murmelte Mayhew.
"Maggie ist tot", sagte ich bitter. "Seit beinahe einem Jahr. Und mein Bruder ist auch fort. Von ihm habe ich seitdem nichts mehr gehört. Vielleicht lebt er auch schon nicht mehr."
"Mein Beileid. Das ist sicherlich ein schwerer Verlust."
"Ja. Vielleicht ist es gut, dass Ihr Maggie nie kennengelernt habt, wenn Ihr schon denkt, dass ich meiner Mutter ähnlich sehe. Maggie käme Euch wie eine Kopie vor. Ich hielt sie in meinen Armen, als sie starb."
Es fiel mir immer noch sehr schwer, darüber zu sprechen. Ihr Verlust schmerzt genau wie am ersten Tag.
"Aber das tut nichts zur Sache. Ma... Sie hat nie über ihre Vergangenheit gesprochen. Jetzt kenne ich den Grund dafür. Wo fängt man überhaupt an, wenn man von so einer Vergangenheit zu erzählen hat? Ich kannte sie also nur als liebevolle und starke Frau, nicht als Assassine. Ich habe viel von ihr gelernt, bis jetzt erinnere ich mich an ihre Ratschläge."
"Vergiss niemals, auf wessen Seite du stehst", unterbrach Mayhew mich. Ich blickte ihn überrascht an. "Das sagte sie zu meinen Zeiten schon, als ich sie fragte, warum sie sich für mich entschieden hat."
Ich lächelte leise und richtete meinen Blick wieder nach vorne. Hätte ich nur früher gewusst, in was für einer tragischen Romanze meine Mutter lebte. Es klingt wie aus einem Märchen, aber leider fehlt das gute Ende. Entgegen aller Hoffnung habe ich mir auch immer so etwas gewünscht, und vielleicht habe ich endlich genau das gefunden, wonach ich gesucht habe. Obwohl ich so viele schreckliche Dinge getan und unverzeihliche Fehler gemacht habe, scheint das Schicksal mir noch ein großes Glück vorhergesehen zu haben. Warum auch immer. Ich kann es mir wirklich nicht erklären."Sie war die erste, die mein Talent erkannte, als sie mir das Fechten beibrachte. Also, als sie es versuchte." Ich lachte leicht, als ich weitersprach. "Ich war nicht sehr empfänglich dafür. Sie sagte immer: 'Valerian, wenn ich dir einen echten Degen geben würde, würdest du ihn verbiegen wie ein Stück Draht, weil du so grob zuschlägst.' Und dass ich ein Talent für den Kampf, nicht die Kunst hätte."
Mayhew musste ebenfalls lächeln. "Hast du von ihr auch Französisch gelernt?"
"Natürlich. Dazu noch Ballett, und sie unterrichtete mich in der Musik."
"Das waren ihre großen Leidenschaften. Ich habe nie eine schönere Stimme als ihre gehört."
"Ich bin ihr unendlich dankbar, für alles, was sie für mich getan hat. Ohne sie wäre ich nicht hier. Wahrscheinlich wäre ich nicht mal mehr am Leben, wenn sie mich nicht im Kampf geschult hätte."
"Ich kann dir nur zustimmen. Sie hat dich zu einem ehrenvollen jungen Mann gemacht."
Ich neigte dankend meinen Kopf. Ehrenvoll hatte mich noch nie jemand genannt.
"Erzähl mir von ihrem Verschwinden", bat Mayhew, obwohl es ihm offensichtlich nicht leicht fiel.
"In Ordnung. Sie floh, nachdem mein Vater gedroht hatte, ihre zweite Identität auffliegen zu lassen, denn er wusste offensichtlich davon, und ich weiß bis heute nicht, wohin sie verschwunden ist. Ich werde es wohl nie erfahren. Es war nicht ihre Schuld, dass sie gehen musste, eigentlich war es die meines Bruders, er legte den Grundstein für den Streit meiner Eltern, aus dem schlussendlich ihre Trennung folgte.
Ich hörte einen Großteil des Streits mit an. Am nächsten Tag war Ma fort. Sie hinterließ mir und meinen Geschwistern einen Brief und-" Ich stockte und blieb stehen. Ich hatte es ganz vergessen. Meine Hand wanderte an eine Tasche an meiner linken Brust, direkt oberhalb meines Herzens. Ich griff hinein und zog ein Stück Stoff hervor. Ehemals tiefrot, inzwischen ausgebleicht und abgewetzt von vielen Jahren der Nutzung. Ich ließ das Band zwischen meinen Fingern wandern und griff es fest.
"Valerian?", fragte Mayhew verwundert und hielt ebenfalls inne. Er wandte sich zu mir um und schwieg, als er mich dort stehen sah, in Erinnerungen schwelgend. Ich kann mir gut vorstellen, wie ich aussah. Die Augen weit aufgerissen, während sich darin Tränen sammelten. Das Haarband hielt ich andächtig und gleichzeitig vorsichtig in den Händen. Ich hatte es Maggie abgenommen, bevor ich sie für ihre ewige Ruhe in die Erde bettete. Vielleicht war das nicht richtig, immerhin hatte es ihr gehört, allerdings war sie tot und hatte keine Verwendung mehr dafür. Seit sie gestorben war, trug ich es über meinem Herzen, um das wenige, was noch von ihr übrig war, weiterhin bei mir zu haben. Erst jetzt fiel mir wieder ein, wem es vor meiner Schwester gehört hatte.
"Als meine Mutter ging", begann ich zögerlich, als ich meiner Stimme wieder die nötige Kraft zutraute, "ließ sie beinahe all ihre Besitztümer zurück. Ich habe ihre Sachen durchgesehen und gemerkt, dass sich kaum etwas davon anfühlte, als wäre es wirklich ihrs. Nur eine einzige Sache, und ich denke, dass wusste sie selbst auch. Darum gab sie es an Maggie weiter. Ich habe meine Mutter nie ohne dieses Haarband gesehen, seit ich denken kann, war es immer da. Wenn man Eure besondere Verbindung zu ihr bedenkt..." Ich hielt kurz inne und wischte mir über die Wangen und Augen. "... ist es nur gerecht, dass ihr es bekommt." Ich streckte meinen Arm zu Mayhew aus. In meiner geöffneten Handfläche lag das samtene Haarband und schien in der Sonne beinahe zu leuchten.
Mayhews Augen weiteten sich leicht und er rührte sich eine Weile lang überhaupt nicht, als wäre er in Raum und Zeit eingefroren, aber um ihn herum ging das Leben unverändert. Es stiegen schon Zweifel in mir auf, ich war mir nicht sicher, was er von der Geste hielt, begeistert schien er jedenfalls nicht. Meine ausgestreckte Hand zitterte, dann bewegte Mayhew sich plötzlich auf mich zu und umschloss sie mit seinen eigenen. Sein Kopf war gesenkt, darum konnte ich seinen Ausdruck nicht genau erkennen, aber es schien mir, als lächelte er.
„Valerian", begann er, ich konnte ehrlichen Stolz aus seiner Stimme heraushören, das verwunderte mich, „wüsste ich es nicht, hätte ich spätestens jetzt erkannt, wessen Sohn du bist. Niemand sonst trägt so eine Großzügigkeit in sich. Du gibst ihr Erbe so bereitwillig für mich, den du kaum kennst, auf, nur weil es dir so beliebt. Weil du auf dein Herz hörst, und dafür danke ich dir. Du bist wahrlich etwas Besonderes, lass dir von niemandem etwas anderes einreden, hörst du?" Er nahm mir das Band aus der Hand und zog sich zurück, während er es ausgiebig musterte und dabei mit einer unglaublichen Vorsicht hielt. „Du sprachest von Gerechtigkeit, aber dies ist keineswegs rechtens." Er ließ eine seiner Hände sinken und griff in eine Tasche an seinem Gürtel. Er beförderte ein kleines Messer mit einer kurzen Klinge zutage. „Ich bin nicht der Einzige, der die Erinnerung an sie in dieser Form mit sich tragen sollte." Damit teilte er das rote Haarband in zwei Hälften und schloss meine Finger über eine davon, wobei er meine Hand ergriff und mich in eine Umarmung zog.
„Du bist vielleicht nicht der erste Mensch, der einem bei dem Gedanken an einen Heiligen in den Sinn kommt, aber du bist dennoch ein guter Mensch", flüsterte er.
„Danke", war das einzige Wort, das mir in den Sinn kam, während ich mich an ihm festhielt und das Stoff gewordene Andenken an meine Mutter auf meiner Haut spürte.
Mayhew löste sich nach einem kurzen Moment von mir und blickte sich um. „Weißt du, wo wir hier sind?", fragte er mich.
Ich ließ ebenfalls meinen Blick schweifen. Wir standen auf gekürztem Gras und waren von Blumen und anderen Zierpflanzen umgeben.
„Auf einem Friedhof", murmelte ich, als ich etliche Grabmale in unserer Nähe entdeckte.
„In der Tat", antwortete Mayhew und deutete auf den Grabstein vor uns. Er war aus schwarzem Granit und schlicht gehalten, nur zwei Worte standen dort und darunter zwei Daten.
„Ich war ewig nicht mehr hier", fügte er hinzu.
Als ich den Namen auf dem Stein las, wurde mir schwer ums Herz. Ich fühlte mich, als zöge ein Gewicht mich gen Boden, gleichzeitig wurde meine Kehle enger.
„Valerian Dumont"1.339 Wörter
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Vale
ActionIch habe in meinem Leben viel gesehen. Ich bin weit gereist, habe etliche Menschen getroffen. Ich habe etliche Menschen getötet. Ich habe mehr verloren, als ich zu besitzen glaubte. Meine Geschichte ist keine schöne. Sie ist kein Märchen und kein...