39 ~ ۷ɛཞɠɛʂʂɛŋ

11 3 4
                                    

Sein Grab so zu sehen führte mir die Nähe zu seinem Leben vor Augen. Es mochte vielleicht lange her sein, aber er war alles andere als fort. Er war nicht vergessen. Er war noch hier. Und obwohl ich wusste, dass nicht ich derjenige war, der hier tot und begraben war, uns verband nicht viel mehr als unsere Namen, bekam ich dennoch auf einmal Angst. Ich wusste, dass es mir eines Tages genau wie ihm ergehen würde. Eines Tages werde ich sterben, auch wenn es noch viele Jahre dauert. Dieses Schicksal ist unausweichlich. Für mich, für dich, für jeden Menschen. Es war allerdings nicht die Angst vor dem Tod, die mich heimsuchte. Zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben war ich so allein wie sonst nie, und ich hatte Angst, selbst vergessen zu werden. Ich dachte mir, dass sich, wenn ich genau hier und jetzt tot umfallen würde, niemand an mich erinnern würde. Wer war denn noch da? Ich hatte keine Freunde, ich hielt mich für den letzten Überlebenden meiner Familie. Ich hatte niemanden. Keine Menschenseele würde um mich weinen, würde jemals wieder meinen Namen aussprechen. Und das wollte ich nicht. Ich wollte nicht alleine sterben und vergessen werden. Ich wollte nicht bedeutungslos sein.
"Woran denkst du, Valerian?", fragte Mayhew leise und legte mir eine Hand auf die Schulter.
"Ich... Ich", stotterte ich und realisierte, dass ich viel zu lange in meinen Gedanken versunken auf das Grab gestarrt hatte. "Ich weiß es nicht genau."
Ich konnte es nicht in Worte fassen. Ich verstand damals kaum, was diese Gefühle in mir auslöste.
"Ich will nur", sprach ich weiter und hoffte, dass mir währenddessen irgendetwas Brauchbares einfallen würde, "... nur... weg."
Da traf es mich. Meine Reise war hier zu Ende. Jahrelang hatte mich nur die Suche nach Antworten angetrieben. Diese und noch viel mehr hatte ich nun. Ich hatte meinen Ursprung gefunden. Was blieb mir jetzt? Ich wusste noch immer nicht, wo ich hingehörte. Ich kannte keinen Ort, an dem ich mich sicher fühlen konnte. Die Furcht saß mir immer im Nacken.
"Weg?", fragte Mayhew. "Wie meinst du das?"
"Weg von meinen Feinden... meiner Vergangenheit. Ich muss ein Zuhause finden."
"Feinde? Was für Feinde?"
"Die Vipern. Sie suchen nach mir, denke ich."
"Die Vipern?!", rief Mayhew auf einmal laut, ungewöhnlich für ihn. Ich erschrak und zuckte zusammen.
"Was weißt du über sie? Was wollen sie von dir?", fragte er weiter, nun wieder gefasster.
"Ich war fast vier Jahre lang bei ihnen. Sie haben mich ausgebildet, und ich habe für sie gearbeitet. Warum?"
"Sie sind mir ein Dorn im Auge. Valerian, ich mache dir ein Angebot. Du arbeitest von jetzt an für mich und erzählst mir alles, was du über sie weißt, und ich verschaffe dir im Gegenzug ein neues Leben, außerdem verspreche ich dir, dass du dich niemals mehr um irgendetwas sorgen musst."
"Nie wieder?", hakte ich nach. Das hörte sich viel zu gut an, um wahr zu sein. Es war zu einfach.
"Niemals. Geld, Unterkunft, Sicherheit, ich kann dir alles geben."
"Aber warum? Ich bin nicht so wichtig."
"Doch, Valerian. Mir bist du wichtig. Ich werde für dich sorgen, so gut ich kann. Deine Mutter hätte es so gewollt."
"Ich kenne Euch nicht."
"Manchmal muss man das auch nicht."
Ich musterte ihn misstrauisch. Er erwiderte meinen Blick. Fragend, wartend. Ich fragte mich, was er sah. Meine Mutter? Oder den Sohn, den er niemals aufwachsen sehen durfte? Es war leichtsinnig von ihm, sich so auf einen Fremden einzulassen, aber ich sollte verdammt sein, wenn ich dieses Angebot nicht annahm. Auf einen Schlag wären meine Probleme gelöst. Auf jemand anderes Kosten. Das war eine Schuld, die ich niemals zurückzahlen könnte, aber darum musste ich mir nicht lange Sorgen machen. Mayhew wollte mir wirklich helfen, und er hatte keine Zeit, seine Entscheidung zu bereuen, denn er wurde nicht viel später getötet, genau wie alle anderen Mitglieder des Rates. Du weißt schon von wem.
Fürs erste war er mir allerdings behilflich.
"Wohin willst du gehen, Valerian?"
Ich dachte nach und ließ mir mit meiner Entscheidung fast zu viel Zeit. Wo könnte ich jetzt noch hingehen? Mir fiel eine Unterhaltung wieder ein, die ich mit Maggie geführt hatte, vor über vier Jahren. Wir waren beide sturzbetrunken gewesen, aber das änderte nichts daran, dass mir ihre Idee gefiel.
Sie wollte immer nach Griechenland. Weil es dort schön ist.
"Athen", sagte ich also. Vermutlich hätte ich mir länger darüber Gedanken machen sollen. Dann wäre mir klar geworden, dass ich nämlich kein Griechisch spreche, und dass meine Haut alles andere als sonnentauglich ist, aber zögerte dennoch nicht.
"Interessante Wahl", meinte Mayhew anerkennend. "Gibt es hier noch irgendetwas für dich zu tun?"
Ich schüttelte meinen Kopf.
"Dann könntest du schon bald aufbrechen, ich sorge dafür, dass alles für deine Ankunft bereit ist."
"Was wird meine Aufgabe sein?"
"Du wirst eine Art Botschafter. Ein Bindeglied zwischen den Assassinen in Athen und mir."
"Es gibt Assassinen in Athen?"
"Eine Menge. Es ist eine reiche Stadt, die Politik floriert, viele Menschen wollen einander dort tot sehen", erwiderte Mayhew mit einem Zwinkern.
"Das wusste ich nicht", sagte ich beeindruckt und veränderte meinen Stand.
"Es wird dir sicher gefallen. Ich gehe gleich an die Arbeit, um dir dort eine geeignete Unterkunft zu verschaffen. Bis alles vorbereitet ist, kannst du in meinem Haus wohnen."
"Das ist sehr großzügig", bedankte ich mich leicht überfordert. Mayhew verschwendete scheinbar nicht gerne seine Zeit. Wahrscheinlich hatte er nicht sehr viel davon.
"Lass uns gehen. Dieser Ort macht mich unglücklich", sprach er kurz darauf und machte auf dem Absatz kehrt. Mit den gleichen großen Schritten, mit denen er gekommen war, verließ er den Friedhof wieder.
Ich blieb noch kurz zurück und warf dem Grabmal meines Namensvetters einen letzten Blick zu. Ich hoffe, dass es ihm besser geht, dort wo er jetzt ist. Vielleicht sehen wir uns eines Tages, in der Zukunft.

In derselben Nacht lag ich in einem fremden Bett und starrte an die weiße Decke über mir. Es war still in Mayhews Haus. Totenstill. Und dunkel. Stockfinster.
Mayhew selbst war nicht da. Er hatte seine Abwesenheit mit irgendetwas entschuldigt, aber ich hatte ihm nicht richtig zugehört. Von Velvet war auch keine Spur, sie war nicht mehr im Haus gewesen, als Mayhew und ich zurückgekehrt waren, die anderen Assassinen hatten ihn begleitet. So war ich ganz alleine. Alleine mit meinen Gedanken. Wie so oft in der letzten Zeit.
Wenn ich die Geschehnisse des heutigen Tages Revue passieren ließ, wallten zwiegespaltene Gefühle in mir auf. Ich hatte heute vieles erfahren, was mich mit Kummer erfüllte, das meiste davon setzte sich gerade erst wirklich in meinem Geist fest.
Ich bin nach meinem toten Halbbruder benannt, dachte ich. Gehört dieser Name überhaupt noch mir? Ich zweifelte daran, aber den einzigen anderen Namen, den ich trug, wollte ich auch nicht wirklich hören. Was war das größere Übel? Ich wusste es nicht. Auch mein Bauchgefühl ließ mich im Stich. Beide Namen waren meine, keiner von beiden gehörte mir.
Neben diesen finsteren Gedanken geisterte eine weitere Tatsache durch meinen Kopf. Bald würde alles anders werden. Ich hatte mich entschlossen, in ein fremdes Land auszuwandern. Einfach so. Ich war aufgeregt, auf die gute Art, aber auch leicht besorgt. Ich hatte genug von England und Frankreich und all diesen Orten, an denen meine Vergangenheit wohnte. Ich wollte weg davon. Vergangenes vergessen und stattdessen dorthin gehen, wo meine Zukunft auf mich wartete.

vergessen
aus dem Gedächtnis verlieren

1.225 Wörter

ValeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt