Am nächsten Morgen wurde ich von dem Knurren meines eigenen Magens geweckt. Ich hatte selten solchen Hunger verspürt und konnte mich gerade nicht an meine letzte Mahlzeit erinnern, was definitiv ein Zeichen dafür war, dass sie zu weit zurücklag.
Ich öffnete meine Augen und war kurz geblendet. Wenn auch nicht viel Licht durch das kleine Fenster unseres Zimmers fiel, so war es genug, um mir in den Augen zu stechen.
Maggie lag noch mit dem Rücken zu mir in ihrem Bett und schlief. Ich schob die Decke von mir und schwang die Beine über die Bettkante. So blieb ich eine Zeit lang sitzen. Ich musste mich sortieren und allen Ereignissen der letzten Zeit einen Sinn geben. Da ich aber noch sehr müde war und schon beim Blinzeln beinahe wieder einschlief, gestaltete sich das eher schwierig. Ich wusste, dass ich mich bewegen musste, wenn ich richtig aufwachen wollte, allerdings würde das Maggie aufwecken, und ich ließ sie lieber schlafen. Ihre Zeit hier war, weiß Gott, schwer genug, da konnte ich ihr wenigstens eine friedliche Nachtruhe, beziehungsweise Morgenruhe, lassen.
Um die Zeit totzuschlagen kam mir ein grandioser Gedanke. Es gab da ja noch immer ein Projekt welches ich realisieren musste. Und zwar heute. Ich musste vor unserer Aufnahmeprüfung fertig werden, die wohl morgen stattfinden würde. Bis dahin sollte auch Gabe wieder frei sein. Ob er da sein und zuschauen würde? Zuschauen, wie seine kleine Schwester und sein kleiner Bruder zu Mördern werden?
Mörder, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf immer wieder. Gabe war und ist ein Mörder, Mark ist einer, jeder hier war ein Mörder. Bald, bald würde ich dazugehören. Ich glaubte, noch nie vorher in meinem Leben so aufgeregt gewesen zu sein.Egal, zurück zum Thema, Vale, ermahnte ich mich. Es sollte jetzt nicht um mich und meine Ängste gehen, sondern um Maggie.
Ich griff unter mein Kopfkissen und holte den dicken Wälzer hervor. Ich legte es auf meine überschlagenen Beine und öffnete es in der Mitte. Primula vulgaris sah mir entgegen, aber für die Betrachtung der Stängellosen Schlüsselblume hatte ich gerade keine Zeit, obwohl ihre kleinen hellgelben Blüten sehr hübsch aussahen.
Nein, ich wollte mich heute einzig und allein einer Sektion in diesem Buch widmen, die ich nur äußerst selten aufschlug. Sie war ganz hinten im Buch. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie ich diese Seiten einmal mit meiner Mutter durchgeblättert hatte.
"Diese nicht, Vale", hatte sie gesagt. "Wenn du jemals eine davon siehst, dann lass bloß deine Finger davon. Oder vernichte sie am besten."
Warum sie das gesagt hatte? Ganz einfach. Alle diese Pflanzen waren hochgiftig und führten auf die verschiedensten Weisen zum Tod.
Damals noch hatte es mich geängstigt, was für grausame Effekte der Konsum eines kleinen Pflänzchens haben konnte, aber heute war es genau das, wonach ich suchte.Ich schlug Seite um Seite um und betrachtete die Darstellungen der verschiedenen Giftkräuter. Dabei fragte ich mich, welche in dieser Situation wohl am angebrachtesten war. Ich wollte etwas, bei dem es schnell ging. Unnötiges Leiden wollte ich möglichst vermeiden. Zum einen, um es meinem... Opfer leichter zu machen, zum anderen wollte ich nicht selbst mit ansehen müssen, wie jemand meinetwegen unendliche Qualen litt.
Ach, bei dieser Erinnerung wird mir regelrecht warm ums Herz. Diese Skrupel, die ich damals noch hatte. Wo sind sie denn nur hin? Ja, verschwunden sind sie. Heute würde ich diese Angelegenheit ganz einfach mit einem sauberen Kehlschnitt erledigen, aber mit dreizehn war es für mich noch unvorstellbar, bei einem Mord tatsächlich Hand anzulegen. Kannst du das glauben? Tja, du wirst aber leider noch eine Menge Rumgeheule ertragen müssen, denn ich war wirklich ein ziemliches Weichei, damals.Gut, gut, du willst sicherlich wissen, für welches Gift ich mich nun entschied. Es dauerte recht lang, bis ich meine Wahl getroffen hatte.
Ich blieb zwischendrin bei der ganz klassischen Atropa belladonna, der Tollkirsche, hängen, aber der Fakt, dass sie vor dem Tod Halluzinationen, Tobsucht und Schüttelkrämpfe auslösen kann, schreckte mich dann ab.
Oho, später einmal habe ich jemanden mit Belladonna vergiftet. Ein Heidenspaß war das. Wie er gelitten, geschrien, sich gewunden hat. Das war zu einer sehr interessanten Phase in meinem Leben, in der ich einige sadistische Neigungen entwickelt habe. Ich will nicht lügen, einiges davon ist bis heute hängen geblieben.
Ja, wie auch immer. Ich zog Colchicum autumnale, die Herbstzeitlose, in Erwägung, allerdings brauchte man recht viel von ihrem Gift, um jemanden sicher zu töten.
Meine Wahl fiel schlussendlich auf den Wasserschierling. Ein letztes Mal nerve ich dich mit dem lateinischen Namen. Er nennt sich Cicuta virosa. Er schien wie der perfekte Kandidat. Schon geringe Mengen des Giftes reichen, um jemanden umzubringen, er war leicht zu finden, da er eine recht weit verbreitete Pflanze ist, die an stehenden Gewässern wächst, und der Tod war nicht sehr schmerzhaft und trat schon innerhalb von etwa einer Stunde ein. Gut, es gehörten Übelkeit und ein paar Krämpfe dazu, aber die waren nicht allzu schmerzhaft und würden schnell vorbei sein.
Ich prägte mir also die Merkmale der Pflanze ein und starrte lange auf die abgebildeten Blüten. Sie waren weiß und kamen in üppigen Blütenständen vor. Sie sahen so fast aus wie kleine Wolken. Gut, so waren sie leicht zu erkennen. Da der Frühling gerade in größter Pracht über dem Lande stand, waren alle Gewächse in bunter Blütezeit. Einfach großartig.
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Vale
AksiIch habe in meinem Leben viel gesehen. Ich bin weit gereist, habe etliche Menschen getroffen. Ich habe etliche Menschen getötet. Ich habe mehr verloren, als ich zu besitzen glaubte. Meine Geschichte ist keine schöne. Sie ist kein Märchen und kein...