Eine Assassine. Eine Assassine! Ich konnte es nicht fassen. Ich dachte, ich hatte schon Glück damit, dass Velvet mich nach Frankreich brachte, weil ich dort sowieso hin wollte, aber dass ich auch noch genau von den Menschen gefunden wurde, die ich aufsuchen wollte, musste eine schicksalhafte Fügung sein.
Ich senkte meinen Kopf, ein ungläubiges Lächeln in meinem Gesicht, während ich fest Velvets Hände ergriff, die auf meinem Bauch lagen.
"Ist das wahr?", fragte ich, nur schwer in der Lage, meine Freude zu unterdrücken.
"Natürlich ist das wahr", antwortete die Frau hinter mir verwundert und leicht empört. "Warum sollte ich dich denn belügen?"
Ich hätte es mir denken müssen. Sobald Velvet die Verbindung zwischen Mayhew und meiner Mutter erwähnte, hätte mir klar werden müssen, dass sie vom selben Schlag waren. Es war so offensichtlich, und doch blieb mir die Wahrheit verborgen.
"Wie kann ich beitreten?", fragte ich, hungernd nach Informationen.
"Du... Du kannst nicht einfach so beitreten", stotterte Velvet, überrascht von meinem plötzlichen Eifer. "Mayhew kann entscheiden, was mit dir passiert, wenn ich dich ihm ausgeliefert habe, aber ich weiß nicht genau, was er von dir will. Normalerweise würde er niemanden mit deinem... Hintergrund aufnehmen." Sie spielte sicherlich auf meine Vergangenheit bei den Vipern an. Aber das war alles, was es war. Vergangenheit. "Vielleicht macht er eine Ausnahme, weil du Lionnes Sohn bist, aber... das erscheint mir unwahrscheinlich. Es gibt nur wenige Dinge, die er mehr hasst als die Vipern und alles, was mit ihnen verbunden ist. Wenn ich du wäre, würde ich mir keine großen Hoffnungen machen. Wahrscheinlich wird er dich töten, sobald er alles aus dir herausgequetscht hat, was er wissen will."
Ich schob schmollend meine Unterlippe vor. "Wirst du kein gutes Wort für mich einlegen?"
"Ich kann's versuchen. Ich habe ihm oft genug meine Loyalität bewiesen. Vielleicht vertraut er mir im Gegenzug, wenn ich ihm sage, dass von dir keine Gefahr ausgeht."
"Heureka", sagte ich freudlos. "Ich werde vielleicht leben. So gute Aussichten gab es für mich schon lange nicht mehr."
"Allerdings...", schnurrte sie da, "woher weiß ich, dass du keine Gefahr bist?"
Ich verengte meine Augen. "Ich laufe seit Stunden frei herum und habe weder dich noch irgendwen sonst umgebracht?"
"Das könnte auch eine Taktik sein. Um mein Vertrauen zu gewinnen." Ich spürte ihre Hände aus meinen gleiten und nach oben an meine Brust wandern.
"Scheint mir eher so, als würdest du gerade eine Taktik vollziehen, um mich für dich zu gewinnen", meinte ich mit hochgezogenen Augenbrauen, unempfänglich für ihre Liebkosungen, obwohl es mich einiges an Selbstkontrolle kostete.
"Hmm, möglich", summte sie und ließ ihre Finger weiter über meinen Körper tanzen, bis sie sie nach außen zog und sanft über meine Rippen unterhalb der Achseln strich. Du weißt genau, was das mit mir macht, und sie hat es auch schnell herausgefunden. Meine größte und vielleicht einzige Schwachstelle.
Ein wohliger Schauer durchfuhr mich und ich neigte meinen Kopf nach links. Velvet vergrub ihr Gesicht an meinem frei gewordenen Hals und wollte nicht mehr von mir ablassen, bis ich nicht mehr an mich halten konnte.
Ich wirbelte herum, blickte kurz in ihre funkelnden Augen und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen, bevor ich leise fragte: "Wie viel Zeit haben wir?"
"Vielleicht zwanzig Minuten", schätzte sie flüsternd.
"Das schaffe ich noch", versprach ich grinsend und griff um ihre Oberschenkel, um sie anheben und unter Deck tragen zu können. Ich hielt mein Wort.Wenig später wurde ich durch ein Klopfen an der Tür zu Velvets Gemach aufgeschreckt.
"Wir sind da. Werdet fertig, ihr beiden Turteltäubchen", rief eine rauchige Stimme durch das Holz.
"Ich hab dir doch gesagt, man würde dich hören", sagte ich zu Velvet, die schon aufgestanden war und sich hastig anzog.
"Ich gebe dir die Schuld dafür", gab sie zurück und zückte ein Seil.
"Ich seh's als Kompliment", brummte ich und erntete dafür einen missbilligenden Blick von ihr.
"Hände her", befahl sie.
"Muss das sein?", quengelte ich mit Blick auf das Seil.
"Leider ja, Vivi. Ich kann ja niemanden wissen lassen, dass ich mit der Konkurrenz schlafe."
"Erstens gehöre ich nicht mehr zu denen, zweitens kann von Schlaf nicht wirklich die Rede sein", widersprach ich, streckte ihr aber dennoch bereitwillig meine Hände entgegen. "Mm, mach das doch nicht so fest."
"Es muss schon glaubwürdig wirken", sagte sie entschuldigend und zog mich hinter sich her, und ich folgte ihr wie ein angeleinter Hund. Ich hatte kein Problem damit. Sie sah von allen Seiten gut aus.Paris aus der Ferne war schon beeindruckend. Es aus der Nähe zu sehen, mittendrin zu sein, das war etwas ganz anderes. Ich konnte die Augen nicht von meiner Umgebung lassen, während Velvet mich durch die Stadt führte, in Begleitung von fünf der anderen Assassinen, die schon bei meiner Gefangennahme dabei gewesen waren. Ich hätte mich verlaufen und wäre ständig gegen Hindernisse gelaufen oder gestolpert, wenn sie mich nicht mit Hilfe des Seils um meine Handgelenke davor bewahrt hätte. Mich starrten mehr Leute an, als mir lieb war. Wahrscheinlich hielten sie mich für einen Verbrecher. Wie Recht sie damit doch hatten. Allerdings wurde ich nicht in ein Gefängnis oder zu meiner Hinrichtung geführt. Obwohl, da war ich mir noch nicht so sicher. Es konnte gut sein, dass ich diesen Tag nicht überlebte, aber ich weigerte mich, das zu glauben. Ich würde Mayhew beweisen, dass er mir vertrauen konnte. Dass ich wie meine Mutter einen guten Assassinen abgeben würde.
Meine Mutter war eine Assassine, dachte ich. Zum ersten Mal mit Stolz. Nichts würde ich lieber, als in ihre Fußstapfen zu treten. Das war es, was sie mir hinterlassen hatte. Es war vielleicht ein unübliches Erbe, aber das war ihr Vermächtnis. Von diesem Tag an sollte ein Pricefield zu sein keinen Reichtum und Adel mehr bedeuten. Von diesem Tag an wollte ich, der sich zu diesem Zeitpunkt als letzter verbliebener Pricefield sah, ein Assassine sein."Und hier sind wir", sagte Velvet und hielt vor einem weiß verputzten Häuschen. Es hatte nur ein Stockwerk und schien schon etwas älter zu sein. Efeu rankte sich an den Wänden hinauf und das Holz der Fensterrähmen war von der Sonne gebleicht. Es war ein schönes Haus, wirklich sehr schön. Ich könnte mir vorstellen, hier zu wohnen.
"Lebt Mayhew hier?", fragte ich.
"Im Moment", erwiderte Velvet. "Er bleibt nie lange an einem Ort. Als Ratsmitglied hat er viele Feinde."
"Rat?", hakte ich nach.
"Die Assassinen werden von einem Rat geleitet. Er besteht aus den Oberhäuptern aller Regionen, in denen wir tätig sind."
Ich nickte verstehend, ehe ich von Velvet ins Innere des Hauses gezogen wurde. Unsere anderen Begleiter verschwanden in alle Himmelsrichtungen, jedoch warteten drinnen still mehr von ihnen. Wir passierten einen Flur, aber alle Türen waren geschlossen, darum konnte ich nichts von den Zimmern sehen. Vor uns lag eine Treppe, die unser Ziel zu sein schien, allerdings leitete Velvet mich nicht nach oben, sondern nach unten. In den Keller, der nicht sehr groß war und so eine niedrige Decke hatte, dass ich den Kopf einziehen musste, allerdings nicht sehr lange, denn Velvet zwang mich mit einem Tritt in die Kniekehlen auf den Boden.
"Aua!", beschwerte ich mich leise. "Musste das sein?"
Aber sie zischte nur ein "Halt die Klappe!" und band meine Fesseln an einem eisernen Haken im Boden fest. Ich konnte Blut auf dem Boden sehen, ansonsten war der Raum neben einer Fackel leer.
Charmant, dachte ich.
Velvet erhob sich. Ich folgte ihr mit dem Blick und sah erst jetzt den Mann, der sich an der Wand gegenüber von mir aufhielt. Er lehnte an dem Gemäuer. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, es war zu dunkel.
Er begrüßte Velvet: "Ah, bonjour ma belle Rachel."
Rachel, dachte ich. Wie schön.
"Salut Maître", antwortete die rothaarige Schönheit und verbeugte sich tief. Ihr war anzuhören, dass Französisch nicht ihre Muttersprache wahr. Dem Maître, von dem ich ausging, dass es sich um Mayhew handelte, allerdings nicht. Er schien von hier zu stammen.
"Est-ce qu'il parle français?", fragte Mayhew und machte eine kleine Geste in meine Richtung. Ansonsten rührte er sich nicht, aber selbst diese kleine Bewegung faszinierte mich. Sie schien überlegt, aber dennoch kraftvoll und gespannt. Seine gesamte Haltung und Ausstrahlung erfüllte den Raum mit seiner Macht.
Velvet sprach weiter, als wäre ich nicht direkt hinter ihr angebunden und könnte jedes Wort verstehen: "Oui, c'est Valerian."
"Qui?", fragte Mayhew, leichtes Unbehagen und Erkennen in seiner Stimme.
"Valerian Pricefield. Le fils de La Lionne."
"Ah, oui. Je comprends." Mayhews wohlklingende, aber lauernde Stimme, die vorher nur begrenzt interessiert gewesen war, schien plötzlich von einer unbändigen Neugier erfüllt. Er stieß sich von der Wand ab, ließ Velvet stehen und machte drei große und raumgreifende Schritte in meine Richtung und damit die der Fackel. Jetzt konnte ich ihn sehen. Dunkelblondes Haar, das ihm auf die Schultern fiel und sein schmales Gesicht einrahmte, Dreitagebart, recht große stahlgraue Augen und eine hässliche Brandnarbe auf der linken Wange.
Er blieb vor mir stehen. Ich senkte den Kopf und musterte seine schwarzen Lederstiefel, die gut zu seiner gleichfarbigen Hose passten und in Kontrast zu seinem weißen Hemd standen, dessen Ärmel er sich bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte.
Er sprach endlich zu mir, immer noch auf Französisch, aber ich werde das netterweise für dich übersetzen, weil ich weiß, dass du sonst rein gar nichts verstehst.
Er sagte: "Ich suche dich schon sehr lange, Valerian."Veränderung,die
sich ändern, anders werden1.550 Wörter
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Vale
ActionIch habe in meinem Leben viel gesehen. Ich bin weit gereist, habe etliche Menschen getroffen. Ich habe etliche Menschen getötet. Ich habe mehr verloren, als ich zu besitzen glaubte. Meine Geschichte ist keine schöne. Sie ist kein Märchen und kein...