In der Herberge lehnte ich mich mit geschlossenen Augen an die Tür und atmete tief durch.
"Nanu? Was ist denn mit dir passiert?", fragte die Wirtin. Ich sah auf und lächelte matt.
"Ach, ich bin nur etwas schnell gelaufen." Das war die beste Notlüge, die mir auf die Schnelle eingefallen war. Ich kann wirklich nicht sehr gut lügen.
"Brauchst du irgendetwas?", fragte sie nun.
"Nein, nein", winkte ich ab. "Alles ist gut, vielen Dank. Ah, wir wollen übrigens noch eine Nacht bleiben, wenn das geht."
Ich legte das Geld, wovon ich eigentlich Verbandszeug hatte kaufen sollen, vor sie auf den Tresen.
"Aber natürlich, junger Mann. Richte deiner Schwester einen guten Morgen von mir aus, ja?", sagte sie freundlich lächelnd. Ich nickte höflich und verschwand auf mein gemietetes Zimmer.Maggie schlief immer noch, und ich hatte kein Interesse danach, sie jetzt aufzuwecken. So hatte ich immerhin genug Zeit über alles nachzudenken, was an diesem jungen Morgen schon passiert war. Diese Organisation, Gilde, was auch immer es war... Gabe war felsenfest dagegen, dass Maggie und ich uns ihr anschlossen, aber für ihn selbst schien sie gut genug zu sein. Das, was Mark alles erzählt hatte, hatte sich ja auch alles ganz gut angehört, aber was steckte wirklich dahinter? Vielleicht wäre es wirklich nicht schlecht ebenfalls einzutreten. Wie schlimm konnte es schon sein?
Nun, Gabe hatte sie als Verbrecher bezeichnet. Meinte er damit Dinge wie Diebstahl, oder sogar Schlimmeres?
Jetzt machte ich mir schon wieder Sorgen.
Nun gut, ich wollte keine voreiligen Entscheidungen treffen; erst musste ich unbedingt mit meiner Schwester sprechen. Und mit Gabe. Ich war mir sicher, dass wir ihn vor morgen früh noch einmal sehen würden, denn er musste uns ja bloß davon abhalten, eine Fehlentscheidung zu treffen. Wie es danach mit uns weitergehen sollte, wusste ich zwar nicht, aber da würde ihm bestimmt auch noch etwas einfallen.Ich gähnte und zog mein Pflanzenbuch aus meinem Beutel.
- Ja, ich habe es mitgenommen. Ich konnte mich einfach nicht davon trennen. Es steht sogar immer noch zuhause im Regal. ... Ja, wirklich! Ich kann es dir später zeigen, wenn du mir nicht glaubst. -
Ich setzte mich also mit meinem Buch an das kleine Fenster des Zimmers und blätterte gedankenverloren darin. Wie lange ich da saß, kann ich dir nicht sagen, aber irgendwann hörte ich, wie Maggie sich räkelte.
"Guten Morgen, Siebenschläfer", sagte ich und drehte mich zu ihr.
"Warum bist du denn hier?", fragte sie müde. "Wolltest du nicht nochmal zum Markt?"
"Ja, das wollte ich", gab ich zögerlich zurück. "Aber dann ist mir etwas dazwischengekommen. Jemand, könnte man wohl sagen."
Sie rieb sich die Augen.
"Was ist denn passiert?"
Ich seufzte.
"Ich habe Gabe getroffen", sagte ich leise.
Sie sprang auf.
"Was?! Wie geht es ihm? Wo ist er jetzt? Was macht er? Hat er was gesagt?", sprudelte sie los.
"Ruhig Blut, Schwesterherz. Eine Frage nach der anderen bitte", sagte ich geduldig. "Gabe geht es soweit gut, denke ich."
Sie atmete auf und setzte sich wieder auf ihre Bettkante. Dann erzählte ich ihr alles.
Von Mark, über die Organisation, bis hin zu Gabes Reaktion auf meinen Bericht der Geschehnisse in seiner Abwesenheit. Maggie sah mich die ganze Zeit über mit großen Augen an und lauschte gebannt.
"Und, meinst du wir sollten dieser Gilde auch beitreten?", fragte ich sie am Ende meiner Erzählungen.
Sie dachte nach.
"Hmm...", machte sie. "Wenn wir noch ein bisschen mehr über sie herausfinden könnten..."
Und dann sagte sie etwas, was ich nicht von ihr erwartet hätte: "Ich finde schon. Selbst wenn sie Verbrecher sind. Ich will auch mal etwas Verbotenes tun, denn ich habe Regeln einfach satt. Außerdem scheint mir das wie die perfekte Gelegenheit für den Start in ein neues Leben. Eins, das nicht so langweilig ist. Etwas Nervenkitzel könnte uns guttun. Was haben wir schon zu verlieren?"
Mir fiel so einiges ein, was wir verlieren konnten. Unsere Leben, zum Beispiel, aber ich sagte nichts und starrte sie einfach nur an. Sie grinste.
"Was guckst du denn so blöd?", fragte sie. "Ich weiß doch, dass es dir genauso geht, Bruderherz. Ich kenne dich doch."
"Mag sein, aber willst du wirklich ein Leben als Gesetzlose führen? Du als Schwerverbrecherin? Ich weiß nicht...", sagte ich unentschlossen.
Sie verdrehte die Augen.
"Wenn es uns nicht gefällt, können wir ja immer noch abhauen. Vale, das ist vielleicht unsere einzige Chance. Wir sind von zuhause weggerannt. Sind wir nicht schon gesetzlos? Wir machen was wir wollen, wann wir es wollen. Also lass es uns auch richtig machen. Die Welt steht uns offen, und das ist wahrscheinlich nur einer von vielen Abstechern, die wir auf unserem Weg machen werden. Was soll hier noch schiefgehen?"
Ich sah das Funkeln in ihren Augen und wusste, dass es um sie geschehen war. Sie war sich sicher. Wirklich sicher. Wie sollte ich ihr da noch widersprechen?
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Vale
ActionIch habe in meinem Leben viel gesehen. Ich bin weit gereist, habe etliche Menschen getroffen. Ich habe etliche Menschen getötet. Ich habe mehr verloren, als ich zu besitzen glaubte. Meine Geschichte ist keine schöne. Sie ist kein Märchen und kein...