"Schon seit ich von deiner Existenz weiß, suche ich nach dir, obwohl ich nicht wusste, dass du diesen Namen trägst." Mayhew ging vor mir in die Hocke. Mein Blick blieb starr auf den Boden vor mir gerichtet. Ich war eingeschüchtert. Mayhews Präsenz war erdrückend, aber nicht auf eine schlechte Art. Es ist schwer zu beschreiben. Man muss ihn getroffen haben, um es nachzuvollziehen.
"Sieh mich an", sagte er. Seine Stimme war freundlich, beinahe sanft. Es klang nicht wie ein Befehl, aber dennoch ließ er keinen Raum für Widerspruch. Ich wusste, dass ich keine Wahl hatte und hob schüchtern den Kopf. Mayhews Augen weiteten sich und er zuckte zurück.
"Unglaublich", flüsterte er entrückt. "Ich hätte nicht erwartet... dass du ihr so ähnlich siehst."
Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, aber die richtigen Worte wollten mir nicht einfallen.
Mein Gegenüber unterbrach meine Überlegungen. "Weißt du, wessen Name es ist, den sie dir gegeben hat?"
Ich schüttelte den Kopf, was Mayhew dazu veranlasste, seinen eigenen schief zu legen.
"Sprich bitte", sagte er. "Ich möchte deine Stimme hören."
"Nein, Mayhew, ich weiß nicht, wessen Name es ist", sagte ich also fest, trotz meiner Nervosität.
Sein Gesicht zeigte keine Reaktion darauf, aber seine rechte Hand, die auf seinem gebeugten Knie ruhte, zuckte kurz in eine Faust. Ich konnte das nicht deuten.
"Sie hat mich also nicht verlassen", sagte Mayhew lächelnd. "Das ist eine Nachricht, in der sie mir mitteilt, dass sie mich nie vergessen hat. Vielleicht verzeiht sie mir sogar."
"Ich bin mir nicht sicher, was das bedeutet", sagte ich.
"Dann lass mich etwas weiter ausholen", seufzte er und setzte sich, um es bequemer zu haben. "Ich traf deine Mutter, als sie fünfzehn war, ich selbst war im gleichen Alter. Damals war sie noch eine brave Adelstochter und ich hatte gerade meine Eltern und mein Zuhause durch einen Brand verloren."
Das erklärt die Narbe, dachte ich und bewunderte gleichzeitig seine Offenheit. Ich hätte nicht jedem so bereitwillig meine Lebensgeschichte erzählt, wie du selbst nur zu gut weißt, aber für Mayhew stellte ich offensichtlich einen Sonderfall dar.
"Ich verirrte mich eines Nachts auf das Gründstück deiner Mutter, ausgehungert, heimatlos und verängstigt. Sie sah mich von ihrem Fenster aus und kam zu mir. Wir lernten uns besser kennen, sie half mir großzügig und im Gegenzug zeigte ich ihr die Stadt. Sie hat sich schrecklich gelangweilt, musst du wissen. Das reiche Leben war ihr nie genug. Unzählige Nächte verbrachten wir zusammen in den Straßen von Arles, unserer Geburtsstadt, und ihre Eltern erfuhren nie davon.
Eines Tages beschloss ich, nach Paris zu gehen, weil ich mir dort ein besseres Leben erhoffte. Sie kam mit mir. Sie hatte alles und ließ alles zurück. Für mich. Die Stunden, die ich mit ihr verbrachte, waren die schönsten meines Lebens."
Mayhew machte an dieser Stelle eine kurze Pause, sein Blick entrückt, als er in den Erinnerungen schwelgte. Ich musste schlucken. Ich wusste das alles nicht. Ma hatte mir nie davon erzählt, und nun saß der Mann vor mir, der sie wahrscheinlich besser als jeder andere kannte.
"Ich habe sie geliebt. Seit ich sie das erste Mal sah", setzte er wieder ein. "Sie war meine erste und einzige große Liebe, und sie fühlte das gleiche.
Wir reisten zusammen nach Paris und wurden zusammen in den Bund der Assassinen aufgenommen. Nur sechs Jahre verbrachten wir miteinander, aber diese Jahre schienen mir wie eine Ewigkeit, und sie hätte noch länger andauern können, wenn ich nicht so schrecklich dumm gewesen wäre. Es war allein meine Schuld, dass wir uns trennten, denn ich sie betrog sie, als wir im Streit waren. Es war ein furchtbarer, unverzeihlicher Fehler, den ich niemals hätte machen dürfen. Ich tat es, weil ich in tiefer Trauer war, genau wie deine Mutter. Denn das war kurz nachdem unser Sohn starb. Er war zwei Jahre alt. Seit seiner Geburt war er sehr schwach, und dann war es eines Tages einfach... vorbei."
Mayhew blickte auf den Boden. Tränen tropften von seinen Wangen. Ich war tief erschüttert. Ich hatte nicht gewusst, dass meine Mutter noch ein Kind hatte, bevor Gabe auf die Welt kam. Und ich wusste auch nicht, dass sie diesen tiefen Schmerz in sich trug. Es schien mir unvorstellbar, ich hatte nie etwas davon bemerkt. Wie konnte sie nur die ganze Zeit so glücklich sein und uns eine heile Welt vorspielen?
"Weder sie noch ich sind darüber hinweg gekommen. Keiner von uns wusste, wie er damit umgehen sollte. Ich tat das Falsche, betrank mich und ließ mich von einer Hure ins Bett locken, nur um von deiner Mutter erwischt zu werden. Ich sehe ihr Gesicht noch genau vor mir. Wie verletzt sie war. Ich konnte sehen, wie ihr Herz brach, und meines gleich mit, denn sie drehte sich um, ging aus der Tür und kam nie wieder. Ich habe nie aufgehört, nach ihr zu suchen, aber sie wollte nicht gefunden werden."
Der Mann vor mir holte zittrig Luft und schluchzte einmal leise.
"Dann fand ich sie, um feststellen zu müssen, dass sie wieder fort war. Sie war mir immer einen Schritt voraus."
Ich blickte Mayhew an und fühlte eine unbändige Welle des Mitleids und der Sympathie für ihn über mich hinweg rollen. Ich hatte ihn eben erst kennengelernt, aber er war mir jetzt schon so vertraut wie ein langjähriger Freund.
Meine Mutter hatte mich mein Leben lang belogen, aber dafür bewunderte ich sie jetzt nur noch mehr. Was sie geleistet hat, ist unglaublich. Eine Tat, die eine Kraft erfordert, die die wenigsten Menschen haben. Ich wäre stolz darauf, nur ein Zehntel ihrer Stärke zu besitzen.
"Danke, dass Ihr mir das erzählt habt", flüsterte ich vorsichtig. "Ich suche auch nach ihr, seit sie verschwand und mir nur einige Zeilen hinterließ. Aber ich muss dennoch fragen: Was hat das mit meinem Namen zu tun?"
Mayhew sah auf, sein Blick weich und seine Augen gerötet. "Valerian bedeutet etwas wie 'der Starke' oder 'der Gesunde'. In der Hoffnung, es würde ihm Glück bringen und das Wunder seiner Genesung geschehen lassen nannten wir so unseren Sohn."
Jetzt spürte ich ebenfalls ein vertrautes Engegefühl in meiner Kehle und ein Brennen in meinen Augen, als mir eine Szene aus meiner Vergangenheit einfiel. Ich war fünf oder sechs. Es ist erstaunlich, dass ich diese Erinnerung überhaupt noch habe.Ich saß auf dem Schoß meiner Mutter. Wir waren allein und sie kämmte mein Haar. "Dein Name ist etwas ganz Besonderes", sagte sie auf einmal. Ihre Stimme klang schwerer als sonst.
"Warum?", fragte ich verwundert und wollte sie ansehen, aber sie hätte mir wahrscheinlich etliche Haare ausgerissen, wenn ich mich jetzt bewegte.
"Er gehörte jemandem, den ich sehr, sehr lieb hatte", sagte sie.
"Wem denn, Ma?", fragte ich.
"Vielleicht erzähle ich dir von ihm, wenn du älter bist", flüsterte sie. Ein Wassertropfen landete auf meinem Scheitel, was mich sehr verwunderte. Ich hatte meine Mutter nie weinen sehen.
Leider hatte sie nie die Chance, mir selbst von Valerian zu erzählen, dessen Namen ich trage.Dann sagte ich etwas, von dem ich nicht erwartet hätte, dass es in mir steckt: "Dann bin ich stolz, diesen Namen zu tragen. Er gehörte jemandem, der sehr stark war, aber nie sein Leben leben durfte. Vielleicht kann er es nun durch mich. Solange ich atme, wird man ihn nicht vergessen."
Mayhew lächelte kurz und blickte nach oben, während er meine Worte auf sich wirken ließ. Dann zog er ein Messer hervor, mit dem er meine Fesseln durchtrennte. Ich wollte ihm schon danken, kam aber nicht dazu, denn mir blieben die Worte weg, als er seine Arme um mich legte und mich in eine feste Umarmung zog. Ich war kurz überrumpelt, erwiderte sie aber schließlich. Ich mochte es befremdlich finden, einem praktisch Unbekannten so nah zu kommen, aber mir war klar, dass er es gerade brauchte, und dass ich für ihn mehr war, als irgendein Fremder.
Mayhew weinte leise um den Sohn und die Liebe, die er verloren hatte und brauchte eine Weile, bis er mich wieder loslassen konnte, aber als er es tat, schien er wieder stabil zu sein.
"Ich habe eine Bitte an dich, Valerian. Wollen wir ein Stück gehen?", fragte er mich, richtete sich auf und streckte eine Hand aus.
"Sehr gerne", sagte ich und ließ mich von ihm hochziehen. Velvet stand noch immer an der Wand, sah aber selbst so aus, als hätte sie Weltveränderndes erfahren.
"Verzeih mir für die Fesseln. Hätte ich gewusst, wer du bist, hättest du eine bessere Behandlung erfahren."
"Ich nehme es Euch nicht übel", sagte ich und folgte ihm aus dem Keller auf die Straße. "Ich will mich sogar noch einmal bei Euch bedanken. Ich hatte keine Ahnung, wie das Leben meiner Mutter war, bevor sie meinen Vater traf, und ich bin sehr froh, es jetzt zu wissen."
"Dafür musst du mir nicht danken. Es ist dein gutes Recht, das zu erfahren, obwohl sie wahrscheinlich auch ihre Gründe hatte, nicht darüber zu sprechen", sagte Mayhew und führte mich durch die Straßen der Stadt, wobei er gezielt Wege ansteuerte, die nicht sehr belebt waren. Er hielt seine Hände hinter dem Rücken verschränkt und ging aufrecht mit langen Schritten, so dass ich schwer mit ihm mithalten konnte, obwohl ich ein gutes Stück größer als er war.
"Was war der Gefallen, um den Ihr mich bitten wolltet?", fragte ich nach einem kurzen Schweigen und beobachtete wachsam sein Profil, aber er erwiderte den Blick nicht.
"Ich habe dir von Zeiten vor deiner Geburt erzählt. Jetzt liegt es an dir, mir zu erzählen, was aus der Frau geworden ist, die ich liebe."
Ich richtete meinen Blick wieder nach vorne. "Ich weiß nicht sehr viel... Aber das, was ich doch weiß, sollt Ihr erfahren."Vergangenheit, die
der Gegenwart vorangegangene Zeit1.603 Wörter
![](https://img.wattpad.com/cover/139264840-288-k794996.jpg)
DU LIEST GERADE
Vale
ActionIch habe in meinem Leben viel gesehen. Ich bin weit gereist, habe etliche Menschen getroffen. Ich habe etliche Menschen getötet. Ich habe mehr verloren, als ich zu besitzen glaubte. Meine Geschichte ist keine schöne. Sie ist kein Märchen und kein...