Ich weiß nicht, wie ich es schaffte, aber ich schlurfte den ganzen Weg zu Fuß nach Hause. Ich war müde, hatte Hunger, mir war kalt und alles tat mir furchtbar weh. Den ganzen Tag lang hatte ich Gabe gesucht, und es wurde langsam wieder dunkel, aber ich hatte trotzdem versagt.
Stöhnend hielt ich den Schnitt an meinem Arm. Wie ich glaubte, war er zwar nicht besonders tief, aber er blutete immer noch und brannte wie Feuer unter meiner Haut.
Ich stand nun vor der Mauer um unser Grundstück. Sie war nicht gerade hoch, aber in meinem Zustand schien sie mir dennoch wie ein unüberwindbares Hindernis.
Ich streckte die Arme nach oben, sprang vom Boden ab und zog mich ächzend auf die Mauer aus roten Ziegeln. Mein linker Arm pochte, und ich konnte spüren, wie das Blut unter meiner Jacke bis zu meiner Handfläche hinab lief und einen roten Abdruck auf der Mauer hinterließ.
Ich schwang ein Bein nach dem anderen auf die andere Seite und sprang in den Garten. Bei der Landung strauchelte ich und landete stolpernd im Gras. Ich rappelte mich auf und lief in einem Bogen zu dem unverschlossenen Hintereingang, durch den ich das Haus auch schon verlassen hatte.In der Wärme des Gebäudes lehnte ich mich an die erstbeste Wand und sank erschöpft mit geschlossenen Augen daran zu Boden. Scheinbar wurde ich schon erwartet, denn ich hörte gleich zwei besorgte Stimmen.
"Vale!", rief Maggie.
"Master Valerian", sagte Kate und eilte sofort los, um Verbandszeug zu holen, als sie das frische Blut an meinen Händen sah. Maggie ging vor mir in die Hocke.
Ich öffnete meine Augen einen winzigen Spalt; gerade weit genug, um ihren erschrockenen Gesichtsausdruck zu sehen.
"Was ist denn mit dir passiert?", fragte sie.
"Ach", machte ich matt, "nichts Besonderes. Nur eine kleine Rangelei."
"Nur?", fragte sie entsetzt und zog mir die Jacke aus. Das Wams, das ich darunter trug, war über der Wunde zerschnitten und den Arm hinab tiefrot verfärbt.
"Oh", machte ich bei dem Anblick beeindruckt, "hätte nicht gedacht, dass es so schlimm aussieht."
Maggie krempelte meinen Ärmel hoch und sah sich den Schnitt genauer an.
"Hmm... Ist nicht besonders tief, aber dafür recht lang. Glaub nicht, dass er genäht werden muss."
Tatsächlich zog er sich einmal um meinen halben Oberarm. Die Narbe hab ich übrigens immer noch.
"Kriegst du mich wieder hin?", fragte ich und grinste schief. Sie sah mich böse an.
"Das ist nicht lustig! Was zur Hölle hast du bloß angestellt?" Ich seufzte.
"Sie waren zu zweit und hatten ein Messer. Es wäre noch schlimmer ausgegangen, wenn nicht..."
Ich brach ab, da Kate in genau diesem Moment mit Verbänden und frischer Kleidung für mich zurückkehrte. Maggie schickte sie gleich wieder los, damit sie mir etwas zu essen brachte und kümmerte sich selbst um meine Verletzung. Während sie den Schnitt reinigte und verband, erzählte ich ihr ihr, was mir heute alles widerfahren war. Ich versuchte nach Kräften, mich an alle Details zu erinnern, aber der Blutverlust machte meine Gedanken ganz neblig und es fiel mir schwer. Ich ließ jedoch nicht aus, dass Gabe sich scheinbar entschieden hatte, uns zu verlassen. Vorausgesetzt ich konnte den Informationen des schwarzhaarigen Typens Glauben schenken.
"Er ist also wirklich gegangen, ja?", fragte Maggie und begutachtete mein Gesicht. Ihrer Aussage nach hatte ich einen dunkelblauen Fleck auf der linken Wange, das Auge auf der gleichen Seite war leicht zugeschwollen und meine Lippe war auch aufgeplatzt. Alles halb so wild, fand ich.
Ich nickte und sah auf meine Hände, die in meinem Schoß lagen.
"Ich wollte es auch nicht glauben. Das passt doch überhaupt nicht zu ihm."
"Ach nein?", fragte sie schnippisch. "Ist dir etwa noch nie aufgefallen, wie selbstsüchtig er ist? Es soll immer nur danach gehen, was er will. Und anstatt für Ma einzustehen, haut er halt lieber ab und rettet seinen eigenen Hintern. So etwas in die Richtung hab ich mir tatsächlich schon gedacht." Ich ließ ihre Worte kurz auf mir wirken und verglich sie mit meiner Sicht auf Gabe. Es stimmte wohl. Er war sich selbst am wichtigsten. Aber dass er uns einfach so ohne ein einziges Wort zurückließ, hätte ich ihm nie zugetraut. Scheinbar hatte ich mich in ihm getäuscht. Mein eigener Bruder, den ich schon mein ganzes Leben lang kannte, hatte mich alleine gelassen. An einem Tag hatte ich zwei Familienmitglieder verloren.
Was würde als nächstes passieren? Würde man mir auch noch meinen Vater nehmen? Oder sogar meine Schwester? Das könnte ich nichts aushalten. Nicht Maggie. Sie war der wichtigste Teil meines Lebens. Ein Teil meines gesamten Wesens und Seins. Niemand war mir so nah. und wahrscheinlich könnte mir sonst auch niemand so nah sein.
Maggie ließ von mir ab und setzte sich neben mich. Ich zog mein schmutziges Hemd aus und tauschte es gegen das saubere. Dann stand ich auf und zupfte an meinem Verband herum.
Maggie war fast sofort neben mir und schlug mir auf die Finger.
"Lass das."
"'tschuldigung", murmelte ich und ließ die Hand sinken. "Ich schätze, ich sollte mich hinlegen."
Maggie nickte zustimmend.
"Genau, ruh' dich aus."
"Was machen wir morgen?"
"Ich weiß es nicht. Ich schätze, wir versuchen einfach normal weiterzuleben."
"Ich werde den Unterricht mit Ma vermissen", seufzte ich.
Sie wandte sich ohne ein weiteres Wort ab. Sofort bereute ich, das gesagt zu haben. Es fühlte sich so schrecklich falsch an, so über sie zu sprechen. Als wäre sie gestorben. Kurz fragte ich mich, ob das vielleicht sogar besser gewesen wäre. Dann hätte ich immerhin Gewissheit und müsste mir keine Gedanken mehr um ihre Sicherheit machen. Allerdings wüsste ich dann auch sicher, dass ich sie nie, nie wieder sehen würde.
Ich seufzte und schob mich an meiner recht teilnahmslos wirkenden Schwester vorbei in Richtung unseres Zimmers. Sie schüttelte sich und folgte mir dicht auf den Fersen.
Als ich um eine Ecke bog, rannte ich ich fast in Kate hinein, die ein üppig mit Essen gefülltes Tablett auf den Händen balancierte. Ich konnte noch rechtzeitig abbremsen, griff aber trotzdem nach dem Tablett, da Kate vor Schreck zusammenzuckte und strauchelte.
Sie fing sich schnell wieder und entschuldigte sich mit roten Wangen.
"Alles ist gut, Kate", sagte ich nachdrücklich und würgte damit jede weitere Entschuldigung von ihr ab. "Soll ich dir das vielleicht abnehmen?", fragte ich, da ich vermutete, dass das Essen sowieso für mich bestimmt war.
Sie nickte schüchtern und lockerte ihre Finger, die das Tablett viel zu fest umklammerten. Ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Sie entspannte sich ein wenig und ließ ihre zu Fäusten geballten Hände sinken.
"Vielen Dank. Du darfst für heute Schluss machen", sagte ich. Sie hatte gestern schon so lange gearbeitet, da sollte sie heute einen ruhigen Abend genießen.
Sie nickte erneut und öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, aber die Worte kamen erst einige Sekunden später über ihre Lippen: "M-Master Valerian, darf ich Euch etwas fragen?"
"Natürlich", erwiderte ich überrascht.
"Habt Ihr etwas von eurem Bruder gehört?"
Ich schloss mit einem Seufzen die Augen und ließ meinen Kopf hängen.
"Er hat sich entschlossen, nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Es tut mir sehr leid, Kate,aber wir werden ihn wohl nie wieder sehen", sagte ich leise.
Kate schnappte erschrocken nach Luft und schluchzte auf. Maggie trat an mir vorbei und schloss das Dienstmädchen in ihre Arme. Kate war zu einer Art Freundin für Maggie geworden, die wohl in den frühen Jahren ihres Lebens sehr einsam gewesen war. Die beiden verstanden sich gut miteinander und standen sich wohl recht nah.
Kate weinte sich aus, während meine Schwester versuchte, sie zu beruhigen. Ich suchte unauffällig das Weite. Mit emotionalen Situationen kam ich nie besonders gut klar, darum mied ich diese so gut das ging. Ich war jedoch empathisch genug, um Mitleid für Kate zu empfinden. Sie fühlte sich jetzt sicherlich von Gabe abgewiesen. Nach all den Jahren, in denen sie sich auffällig intensiv um ihn gekümmert hatte, war er einfach so verschwunden. Gabes Flucht betraf sie genauso sehr wie Maggie und mich.
Bei dieser Gelegenheit fiel mir ein, dass ich keine Ahnung hatte, was mit Vater los war. Wusste er schon, dass Ma wirklich für immer fort war und Gabe ebenfalls nicht mehr zurückkehren würde? Vermutlich. Wie ging er wohl damit um? Ich wusste es. Mit zu viel Alkohol. Denn obwohl er manchmal Dinge sagte oder tat, die er bereute, liebte er seine Kinder und seine Frau mehr als alles andere auf der Welt. Das war uns eigentlich allen klar.Ich erreichte mein Zimmer und balancierte das Tablett auf einer Hand, während ich die Tür aufstieß. Dabei landete mein Abendessen fast auf dem Boden, doch ich machte einen schnellen Ausfallschritt zur Seite, um das zu verhindern. Schließlich schaffte es das Tablett noch unbeschadet bis zu meinem Schreibtisch, wo ich es abstellte. Ich setzte mich mit Blick aus dem Fenster auf den Stuhl am Tisch. Kurz beobachtete ich die dunklen Silhouetten der Pflanzen in unserem Garten und untersuchte dann mein Abendessen. Brot, Käse, etwas Fleisch und Trauben. Simpel, aber lecker.
Still aß ich vor mich hin, bis ich satt war, achtete aber darauf, auch etwas für Maggie übrig zu lassen, falls sie Hunger hatte.
Und ich dachte nach. Über gestern, heute, morgen, alles dazwischen und darüber hinaus.
Später, nicht viel später, hörte ich in meinem Rücken das Öffnen und Schließen der Tür.
"Wie geht es ihr?", fragte ich.
Maggie ließ sich auf meinem Schreibtisch nieder und griff sich eine Scheibe Brot mit einem Stück Käse.
"Wie wohl?", fragte sie und beantwortete die Frage gleich selbst. "Schrecklich. Aber sie hat sich wieder beruhigt, hoffe ich."
Ich lehnte mich zurück und sah zu ihr auf. Mir war gerade erst bewusst geworden, wie viel Gabe Kate wirklich bedeutete. Ich hielt es lange nur für eine kleine Schwärmerei, mehr nicht, aber für Kate war es wohl offensichtlich viel mehr als das.
Ich kann nicht sagen, dass ich Gabe nicht beneidete, glaubte ich doch in dieser Zeit, selbst mein ganzes Leben in Einsamkeit verbringen zu müssen. Eine falsche Annahme, wie ich heute weiß, aber mein Glück konnte ich damals nicht im geringsten erahnen.
Kate hätte alles für Gabe getan. Sie wäre überallhin mit ihm gekommen. Und sie war nicht die Einzige. Wohin er auch ging, überall lagen ihm mit seinem Aussehen und dem Geld unseres Vaters die Mädchen zu Füßen. Er hätte jede haben können. Aber er hatte sich diese Madison ausgesucht und dabei übersehen, was direkt vor seiner Nase lag.
Ob er wohl zu seiner Madison zurückkehren würde? Erachtete er sie für wichtig genug und uns nicht? Was war aus seinem Versprechen geworden, uns auf seine Reisen mitzunehmen und die Welt zu zeigen? Hatte er nicht auch eine gewisse Verpflichtung und Verantwortung seinen jüngeren Geschwistern gegenüber?
"Ich kann nicht glauben, dass Gabe uns zurückgelassen hat. Weiß er denn nicht, was er uns damit antut?", sagte ich eine Spur verärgert und starrte wieder meine Tischplatte an.
"Ich glaube schon, dass er es weiß. Ich habe noch einmal darüber nachgedacht, und ich glaube ebenfalls nicht, dass er so etwas tun würde, deshalb bin ich zu einem Entschluss gekommen. Ich habe eine Vermutung."
Ich sah überrascht zu ihr auf. Sie erwiderte den Blick, als wüsste sie etwas, das ich nicht weiß und lächelte.
"Sag schon", drängte ich sie.
Sie wurde wieder ernst.
"Und zwar fällt es mir so schwer, das Ganze zu glauben, dass ich es einfach nicht glaube."
"Hä?"
"Vale, er lässt uns nicht zurück. Er mag zwar selbstsüchtig sein, aber wir sind ihm trotzdem wichtig. Ich glaube, wir sind ihm sogar wichtig genug, dass ihm unsere Sicherheit fast wichtiger als seine eigene ist. Er würde viel dafür geben, dass es uns gut geht."
Ich gab ein abfälliges Zischen von mir. Maggie verzog das Gesicht.
"Glaubst du wirklich, dass wir ihm so viel wert sind?"
"Ach, ich hab doch auch keine Ahnung. Wir werden es wohl früh genug sehen."Verletzung, die; Plur. Verletzungen
verletzte Stelle am, im Körper1.970 Wörter
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Vale
ActionIch habe in meinem Leben viel gesehen. Ich bin weit gereist, habe etliche Menschen getroffen. Ich habe etliche Menschen getötet. Ich habe mehr verloren, als ich zu besitzen glaubte. Meine Geschichte ist keine schöne. Sie ist kein Märchen und kein...