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Es ist Nacht geworden. Die zwei einsamen Gestalten sitzen immer noch auf der Lichtung, auf der sie sich vor Stunden niedergelassen haben. Ihr Atem wird als weißer Dunst in der stark abgekühlten Luft sichtbar. Beide von ihnen frieren. Keiner von beiden lässt sich etwas anmerken. Sie schweigen.
Ein Wort klingt plötzlich durch die Stille der Nacht: "Azura."
Als die Dunkelheit fiel, erhoben sich andere Lichter. Die Sterne gingen auf, aber noch heller als sie leuchten hunderte von glühenden Käfern. Sie umschwirren den Erzähler und die Zuhörerin, setzen sich auf ihre Schultern und Knie, wenn ihre Flügel müde werden, und funkeln sie an. Es ist wunderschön.
"Ja?", fragt die Zuhörerin und hebt ihren Zeigefinger, auf dem sich ein Glühwürmchen niedergelassen hat.
"Glaubst du eigentlich an die Liebe auf den ersten Blick?"
"Nein", antwortet sie ehrlich. "Du etwa?"
"Ja. Ich habe es gespürt, als ich dich sah. Klar, ich wollte es nicht glauben, tage- und nächtelang habe ich mir eingeredet, dass da nichts ist. Dass ich nichts fühlen darf. Aber ich war machtlos. Jedes Mal, wenn ich dich ansehe, seit dem allerersten, trifft es mich wie ein Schlag. Es ist eine Wahrheit, die ich nicht leugnen kann. Ich liebe dich."
"Das hast du sehr schön gesagt", flüstert die Zuhörerin gerührt. Der Erzähler nimmt das Kompliment mit einem Nicken an und wirft dem Mädchen an seiner Seite einen wohlwollenden Blick zu. Er nimmt ihre Hand und wärmt ihre kühle Haut.
"Was hast du gedacht?", fragt er dann. "Als du mich zum ersten Mal gesehen hast?"
"Darf ich ehrlich sein?", fragt sie zurück und zieht ihre ausgestreckten Beine an ihren Körper.
"Ich bitte darum."
"Ich habe dich gehasst."
"Autsch."
"Nimm es nicht persönlich. Ich habe dich gesehen und dachte mir immer nur, wie gerne ich dir den Hals umdrehen würde. Ich hatte auch mehr als genug Gelegenheiten dazu - du hast einen ziemlich tiefen Schlaf - aber irgendetwas hat mich immer davon abgehalten. Mit der Zeit wurden diese Gefühle schwächer und schwächer. Irgendwann kam der Tag, an dem mir klar wurde, dass ich mein Leben geben würde, um deines zu schützen."
"Wann? Als ich dich geküsst habe?"
"Schon davor."
"Sag's mir. Bitte."
"Ja doch. Es war genau eine Sekunde, ein Moment, den ich eigentlich schon unendlich oft erlebt habe. Als ich auf dem Markt war und beinahe vergewaltigt wurde. Kurz bevor einer der Kerle mich angriff, habe ich mir gewünscht, dich an meiner Seite zu haben. Dann wusste ich es."
"Du wusstest was?"
"Dass ich nicht mehr gegen dich, sondern viel lieber mit dir kämpfen würde. Das kommt in meinen Augen einer Liebeserklärung quasi gleich, denke ich, denn ich habe es immer gehasst, an andere Menschen gebunden zu sein."
"Ich fühle mich geehrt."
"Das solltest du auch."
Sie verfallen wieder in Schweigen. Heute wurde schon so viel gesagt. Was bleibt noch übrig?
"Danke", fällt der Zuhörerin plötzlich ein.
"Wofür?", fragt der andere.
"Ich weiß, dass es dich viel Überwindung gekostet hat, mir das alles zu erzählen. Ich danke dir für dein Vertrauen."
"Da gibt es nichts zu danken. Ich will keine Geheimnisse mehr vor dir haben. Nicht nach all diesen Jahren."
Die Zuhörerin lehnt sich an ihren Erzähler und legt ihren Kopf auf seine Schulter. Mit dieser Geste fällt es ihr leichter, das auszudrücken, für was sie keine Worte findet.
Ihre Lider werden schwerer, irgendwann fallen ihre Augen einfach zu. Sie ist fast eingeschlafen, da zerschneidet auf einmal eine dritte Stimme die dicke Stille.
"Kinder!", ruft jemand und baut sich am Rand der Lichtung auf. "Da seid ihr ja! Ich suche seit Stunden nach euch. Ihr habt das Mittagessen verpasst. Und das Abendessen auch. Was macht ihr überhaupt hier draußen in der Kälte?"
Der Erzähler sieht lächelnd zu seinem Bruder und steht auf, wobei er seiner Zuhörerin ebenfalls aufhilft. Hand in Hand, sich unterhaltend, lachend und von dem Dritten begleitet, machen sie sich auf den Weg zurück nach Hause.

vorbei
vergangen, zu ENDE

647 Wörter

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