7 ~ ʑῳɛıɬɛʂ ɠıʄɬ ~ ۷ɛཞɩųʂɬ

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Wir hatten unsere Mutter verloren. Sie war für immer fort. Warum? Womit hatten wir das verdient? Es war so verdammt ungerecht. Es musste doch irgendeinen Grund dafür geben. Jemanden, der die Schuld trug.
Dann fiel es mir ein.
Es gab einen Schuldigen.
Ganz klar.
Ich schrie es heraus. Ich musste meiner Trauer und meiner Wut irgendwie Luft machen.
"Gabe ist schuld! Es ist alles nur seinetwegen! Nur seinetwegen ist das passiert!"
Heiße Tränen strömten mir über die Wangen. Maggie zuckte aufgrund meines plötzlichen Ausbruches zusammen und krallte sich an das Hemd, in dem ich geschlafen hatte.
"Lass das!", rief sie. "Halt die Klappe, Vale! Niemand ist schuld. Ma hat doch selbst geschrieben, dass sie wegen ihrer Feinde weg muss. Gabe ist nicht ihr Feind."
"Du hast sie nicht gehört! Es ist wegen des Geldes. Gabe ist ein Dieb!"
Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, wollte ich sie auch schon wieder zurücknehmen. Maggie erwiderte mit der gleichen Wut: "Es ist doch egal, was er ist. Er ist trotzdem dein Bruder! Willst du ihn auch noch verlieren? Stell dir doch nur mal vor, wo er jetzt sein könnte. Du weißt doch, wie er ist! Vielleicht liegt er gerade irgendwo bewusstlos in der Gosse und erfriert. Ich habe ihn gestern oder heute nicht mehr gesehen. Ich habe ihn seit über zwölf Stunden nicht gesehen!"
Am Ende wimmerte sie gequält auf. Mit Verlust kam sie nicht klar.
Vor ein paar Jahren hatte sie einen alten streunenden Kater im Garten gefunden. Das war mitten im Winter gewesen und das Vieh war verletzt und durchgefroren. Maggie tat alles, um es zu retten, aber trotz ihrer Bemühungen starb es noch am gleichen Tag. Sie weinte danach drei Tage lang. Ich an ihrer Stelle hätte den Streuner auf der Stelle erlöst. Niemand hätte es retten können.
Jetzt hatte Maggie ihre Mutter verloren, und das war viel, viel schlimmer.
"Soll ich ihn suchen gehen?", fragte ich sie leise. Sie schluchzte und nickte.
"Ich komme mit", sagte sie, doch ich schüttelte den Kopf und hielt sie zurück, als sie aufstehen wollte.
"Nein, bleib hier, falls er sich nur in irgendeinem Zimmer verkrochen hat oder wiederkommt", sagte ich sanft, aber bestimmt. Ich streckte mich nach oben und griff nach Mas Haarband, das noch auf meinem Bett lag. Vorsichtig wischte ich Maggie mit Daumen und Zeigefinger die Tränen von den Augen und drückte ihr das Band in die Hand.
"Das gehört jetzt dir, Schwesterherz."
Ich stand auf, warf mir eine Jacke über und schlüpfte in meine Schuhe.
"Pass auf dich auf, Vale. Und finde Gabe wieder", sagte Maggie, als ich zur Tür ging und sah mir nach.
"Versprochen", murmelte ich und verschwand.

Vorsichtig schlich ich durch die Flure des Hauses. Ich wollte nicht gesehen werden, das ich eigentlich nicht unerlaubt von Zuhause weggehen durfte. Als ich in die Nähe der Küche kam, sah ich einen blonden Haarschopf um eine Ecke verschwinden.
"Kate!", rief ich leise und heftete mich an ihre Fersen. Sie wirbelte herum und sah mich überrascht an.
"Master Valerian", sagte sie und knickste.
"Wir sind unter uns. Lass die Formalitäten", wies ich sie an. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn sie sich in meiner Nähe so unterwürfig verhielt.
"Was ist los?", fragte sie und lief auf mich zu.
"Gabe ist verschwunden."
Sie schlug sich die Hände vor den Mund und riss die Augen auf. Jeder wusste, dass sie schon länger in Gabe verschossen war. Jeder, außer Gabe selbst, der wohl dieses Verhalten von Mädchen in seiner Nähe als normal empfand. Leider traute Kate sich nicht, ihm ihre Gefühle zu gestehen. Das konnte ich verstehen, da er nicht gerade für seine Treue und Aufrichtigkeit bekannt war. Er ist der Typ Mann, der lacht, wenn ihm so etwas gesagt wird. Gefühle von anderen sind sein liebstes Spielzeug.
Jedenfalls suchte Kate Gabes Nähe und wusste deshalb meist, wo er sich aufhielt.
"Oh je", sagte sie besorgt.
"Du weißt nicht, wo er ist?", fragte ich. Sie schüttelte stumm den Kopf.
"Wann hast du ihn zuletzt gesehen?", fragte ich sie nun drängender und legte ihr die Hände auf die Schultern.
"Äh", stotterte sie verunsichert, "g-gestern."
"Wann?"
"Abends."
"Und was hat er gemacht?", fragte ich ungeduldig. Es nervte mich, dass ich ihr jede Information einzeln aus der Nase ziehen musste.
"Er ist gegangen. Richtung Stadt. Ich dachte, er wäre schon längst wieder da. Oh je, hoffentlich ist ihm nichts passiert."
"Mach dir keine Sorgen, Kate, ich bring ihn wieder sicher nach Hause. Es geht ihm mit Sicherheit gut. Danke für deine Hilfe", sagte ich und lief winkend davon. Ich gab mich sicher, aber eigentlich war ich nicht weniger beunruhigt als sie. So lange war Gabe noch nie weg gewesen. Aber ihm war bestimmt nichts passiert. So leicht war er nicht unterzukriegen. Wahrscheinlich hatte er sich nur bei Thomas oder einem seiner anderen Freunde verkrochen.
Ich verließ das Haus durch die Hintertür, kletterte über die Mauer um unser Grundstück und lief die Straße entlang in die Stadt. Im weichen Boden sah ich Furchen von Wagenrädern und Fußspuren von Reisenden und Händlern, die hier vorbeigekommen waren.
Die Stadt war nicht besonders weit entfernt. Zu Fuß konnte ich es an einem guten Tag in ungefähr einer Stunde schaffen. Heute war einer dieser Tage, da ich mich wirklich beeilte und fast im Dauerlauf am Wegesrand entlang eilte. Langsam machte ich mir wirklich sorgen. Gabe kam gerne mal in Schwierigkeiten, und ich wollte mir gar nicht ausmalen, was ihm alles zugestoßen sein könnte.

ValeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt