Mayhew brauchte wirklich nicht lange. Frag mich nicht, wie er es anstellte, aber ich stand schon drei Wochen später vor der Tür seines Hauses und wartete auf die Assassinen, die mich zu der Kutsche begleiten sollten, welche mein erstes Transportmittel auf der Reise nach Athen sein würde. Ich hatte nicht viel Gepäck dabei. Was sollte ich auch mitnehmen? Mir gehörte kaum noch etwas. Ich war nicht besonders emotional oder traurig, weil ich das Land meiner Vorfahren verließ. Nein, ich freute mich einfach nur auf das Neue. Ich freute mich darauf, dass endlich alles wieder besser werden würde, obwohl es lange wirklich nicht gut für mich ausgesehen hatte. Ich konnte es kaum erwarten, ein neues Leben zu beginnen. Ein Leben als Assassine.
Die Reise dauerte beinahe einen Monat. Ich nahm den Landweg nach Italien, reiste dabei alleine oder begleitete streckenweise andere Reisende oder Händler. Ich bekam viele neue Gesichter zu sehen und Geschichten zu hören. Ich selbst sprach nicht viel. Wenn mich jemand fragte, war ich auf dem Weg nach Athen, um meine Familie zu besuchen. Es musste ja keiner wissen, wer und was ich war.
Mein Landweg endete in einer kleinen italienischen Stadt namens Ancona. Ich sprach kein Wort Italienisch, aber selbst dafür hatte Mayhew gesorgt. Vor Ort erwartete mich ein Assassine und zeigte mir genau, welches Schiff mich nach Athen bringen würde. Jede Meile, die ich hinter mir ließ erhöhte meine Aufregung. Vielleicht trage ich doch ein wenig von der Reise- und Abenteuerlust in mir, vor der Maggie immer überzulaufen schien. Ihr hätte die Stadt auch gefallen. Sie war zwar nie in Griechenland, aber sie hatte scheinbar den richtigen Riecher, als sie sagte, sie wollte hierher. Es ist wirklich ein schönes Land, eines der schönsten, wahrscheinlich sogar das schönste, von allen, die ich jemals bereist habe. Klar, Frankreich war nicht schlecht, Italien war auch ganz nett, ich war sogar mal im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, aber nichts begeisterte mich jemals so sehr wie Griechenland. Ich bekomme zwar immer noch regelmäßig Sonnenbrand, aber das ist es mir mehr als wert.Die dreienhalbwöchige Reise hierher war anstrengender, als alle anderen, auf die ich mich jemals begeben habe. Als zum ersten mal Fuß auf griechischen Boden setzte, war es, als fiele eine untragbare Last von mir ab. Ich hatte es geschafft. Und ich war mehr als froh, endlich hier zu sein.
Ähnlich wie du damals blickte ich mich suchend am Hafen um. Mayhew hatte mir gesagt, dass mich jemand hier erwarten würde, um mir bei meiner Ankunft zur Seite zu stehen, allerdings konnte ich niemanden sehen. Nach einigen Minuten wurde ich ungeduldig und unzufrieden, als ich auf einmal eine wohlbekannte Stimme in meinem Rücken hörte. Ich fuhr herum und hob die Hand, um meine Augen vor der niedrig stehenden Sonne zu schützen, und sah eine freudig winkende Frau auf mich zu rennen.
"Velvet?", fragte ich ungläubig.
"Vivi!", erwiderte sie freudig und warf sich in meine Arme. "Lange nicht gesehen! Ich hab dich schon fast vermisst."
"Nur fast?", fragte ich grinsend und hob sie kurz an.
"Ein bisschen vielleicht", gab sie zu und kicherte. Von den Gestalten, die sie begleitet hatten, kassierten wir dafür einige befremdliche Blicke, aber ich machte mir nichts daraus und gab Velvet einen Kuss. Ich weiß nicht, warum ich mich so freute, sie zu sehen. Ich liebe sie nicht. Ich habe sie nie geliebt. Ich bin mir nicht mal sicher, ob wir wirklich befreundet waren.
"Aber warte mal, was machst du überhaupt hier?", fragte ich dann und setzte sie ab. Sie sah zu mir auf und wischte sich eine ihrer roten Locken aus dem Gesicht, die in einem schönen Kontrast zu ihrer smaragdgrünen Kleidung stand.
"Hat Mayhew dir nichts gesagt? Was glaubst du wohl, was er meinte, als er dir versprach, dass jemand auf dich warten würde."
"Du warst nicht mein erster Verdacht, um ehrlich zu sein."
"Tja, Überraschung, schätze ich", sagte sie breit lächelnd.
"Die ist gelungen", lachte ich. "Ich freue mich wirklich, dich zu sehen."
"Das ist doch schön. Komm mit, ich zeig dir gleich, wo du wohnen wirst", forderte sie mich aufgeregt auf und nahm meine Hand. Ich ließ mich von ihr durch die Stadt ziehen und brach mir beinahe den Hals, so viel sah ich mich um. Velvet ließ alles vollkommen kalt. Wahrscheinlich kannte sie Athen schon.
Viel früher als erwartet blieb sie wieder stehen und gestikulierte zu dem großen und prachtvollen Gebäude, vor dem wir standen.
"Voilà!", sagte sie stolz. "Hier wirst du wohnen."
"Ich?", fragte ich ganz erschrocken. "Ganz alleine?"
"Ja, bis auf ein wenig Personal."
"Um Himmels Willen, das muss ein Vermögen kosten", rief ich.
"Zweifellos", erwiderte Velvet, "aber für das kleine Schneeflöckchen scheut der Meister keine Kosten. Die Schatzkammer müsste auch voll sein, du bist jetzt wohl einer der sorgenfreisten Menschen auf der ganzen Welt. Aber das kennst du ja von früher, hm, Lord Pricefield?"
Ich konnte nicht antworten, es hatte mir die Sprache verschlagen. Die prachtvolle Fassade des dreistöckigen Hauses nahm mir den Atem.
"Warum?", fragte ich, nicht in der Lage, meine Gedanken klarer zu formulieren.
"Ach, das Übliche. Er klammert eben noch immer an deiner Mutter, aber da er sie nicht bekommen kann, macht er stattdessen dir ein schönes Leben. An deiner Stelle würde ich mich nicht beschweren", sagte Velvet mit einem Augenrollen. "Da sieht man mal... was so eine Abstammung alles ausmachen kann. Ich reiße mir jahrelang für ihn den Arsch auf, befolge jede kleinste seiner Anweisungen, und was bekomme ich? Nichts. Aber egal. Lass uns reingehen. Ich bin neugierig. Ich hab's noch nicht von innen gesehen."
Sie lief wieder los und zog mich wieder mit sich. Wir betraten durch das große Portal den Flur des Hauses.
Dunkel, war mein erster Gedanke. Mir fehlten Fenster, aber das muss ich dir nicht erzählen. Du weißt genau, wie das Haus aussieht, immerhin wohnen wir da.
Damals kannte ich es allerdings noch nicht, hinter jeder Tür wartete eine Überraschung auf mich. Nach zehn Minuten verlor ich schon den Überblick und konnte mich überhaupt nicht zurechtfinden. Alles eine Gewohnheitssache, schätze ich.
Velvet und ich begutachteten Raum um Raum, bis wir im Erdgeschoss ein vollständig ein- und hergerichtetes Schlafzimmer fanden. Velvet schloss die Tür hinter mir und lehnte sich mit dem Rücken daran. Ein unverwechselbares Grinsen lag auf ihren Lippen.
"Was wird das?", fragte ich verschmitzt. "Eine Einweihungsfeier?"
"Im kleinen Kreis", schnurrte sie, legte eine Hand an meine Brust und lenkte mich mit sanftem Druck zum Bett, bis ich mit dem Rücken voran in die Laken fiel. Velvet machte es sich auf mir gemütlich und lehnte sich zu mir hinab. Bevor sie allerdings weit kam, drehte ich uns herum und nahm sie zwischen meinen Armen gefangen, bevor ich die weiche Haut an der Seite ihres Halses mit Küssen verwöhnte.
"Ah", seufzte sie, eine besondere Art Erleichterung lag in der leise gehauchten Silbe, "genau deshalb habe ich dich vermisst."
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Vale
AksiIch habe in meinem Leben viel gesehen. Ich bin weit gereist, habe etliche Menschen getroffen. Ich habe etliche Menschen getötet. Ich habe mehr verloren, als ich zu besitzen glaubte. Meine Geschichte ist keine schöne. Sie ist kein Märchen und kein...