"Seid ihr jetzt fertig? Ich hab Hunger!", rief Gabe vom anderen Ende der Wiese, auf der wir standen. Maggie ließ mich los und wirbelte herum. Sie grinste Gabe an und rannte los. Ich folgte ihr und wenig später standen wir leicht außer Atem vor unserem Bruder. Er sah uns abwechselnd an und staunte wohl ein weiteres Mal über unsere Ähnlichkeit. Die funkelnden grünen Augen und unsere Gesichtszüge. Wir hatten beide die hohen Wangenknochen unserer Mutter und den definierten Kiefer unseres Vaters geerbt. Gabes Gesicht wirkte etwas weicher. Vor allem wenn wir wie jetzt lächelten, waren wir kaum auseinanderzuhalten.
Er zerzauste jedem von uns mit einer Hand die Haare und zog uns dann ins Haus. Wir liefen nebeneinander durch die unübersichtlichen Gänge des Herrenhauses. Eigentlich war die Küche für uns verbotenes Gebiet, aber Ma machte immer eine Ausnahme. Sie tat sich schwer damit, dass andere Leute irgendetwas für sie taten, darum kochte sie so oft wie möglich selbst. Ich verstand nicht ganz, warum sie so war, aber glücklicherweise war auch Vater ein großer Freund ihrer Kochkünste, weswegen sie meistens damit durchkam. Auch an diesem Tag war es wieder so. Kurz bevor wir die Küche erreichten, trafen wir auf unseren Vater. Er blickte uns überrascht an.
"Kinder? Was macht ihr den hier? Solltet ihr nicht draußen fechten?", er sah jetzt im Besonderen Gabe an, "Schwänzt ihr etwa schon wieder?"
"Nein!", antwortete mein Bruder eilig, "Das würden wir doch niemals tun!"
"Mutter hat uns früher entlassen", sagte Maggie. "Und jetzt will sie Mittagessen kochen", fügte ich hinzu. Mein Vater grinste und seine Augen leuchteten auf. "Na, das lasse ich mir nicht entgehen!"
Und so begleitete er uns die letzten paar Meter bis zur Küche des Hauses.Wir traten ein und setzten uns an den kleinen Esstisch, der in der Ecke des großen Raumes stand. Vater blieb etwas abseits stehen und unterhielt sich mit dem Koch, der schon lange vor Gabes Geburt hier gearbeitet hatte. In dieser Zeit waren er und Pa gute Freunde geworden. Ma war ihm gegenüber jedoch sehr misstrauisch. Da fiel mir auf, sie war noch gar nicht da. Gabe schien ebenfalls Notiz davon zu nehmen, deshalb wagte er ein kühnes Kunststück.
Er stand unauffällig auf und schritt zur Tür der Vorratskammer. Sie war nur angelehnt, und er konnte sie lautlos aufziehen. Drinnen schlich er zu dem Regal, in dem der Wein aufbewahrt wurde, den Ma und Pa gelegentlich gemeinsam zu trinken pflegten. Er zog den Korken aus einer Flasche und nahm einen großen Schluck und setzte sich unbemerkt wieder auf seinen Platz. Maggie sah ihn anklagend an und schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht, dass wir tranken. Nicht, dass ich das oft tat, aber Gabe schon ab und zu.
"Schau mich nicht so an", sagte mein Bruder und schob Maggie über den Tisch einen Keks zu, den er ebenfalls erbeutet hatte. Sie biss sich auf die Lippen; wenn es um Süßes ging, wurde sie schwach, aber sie wollte sich dennoch nicht bestechen lassen.
Mit sich kämpfend starrte sie den Keks an. Ich starrte den Keks an. Wir bekamen selten etwas zu essen, das mehr Zucker als ein Apfel enthielt.
Maggie hatte einen Vorteil, denn der Keks war in ihrer unmittelbaren Reichweite. Das hieß, ich musste schnell handeln.
Ich hechtete über den Tisch, in genau dem Moment, in dem auch meine Zwillingsschwester sich für das Backwerk entschied. Wir erreichten den Keks fast gleichzeitig, aber ich konnte ihn unter rabiatem Einsatz meiner Ellenbogen an mich bringen.
Triumphierend hielt ich ihn in die Höhe. Maggie sah mich finster an. Gabe lachte sich fast tot und zog einen weiteren Keks hervor, den er ihr in die Hand drückte.
"Ihr seid so berechenbar", sagte er kopfschüttelnd. Ich biss genüsslich in meinen Keks. Maggie tat es mir gleich. "Mmm...", machten wir gleichzeitig.
"Danke", sagte Maggie. Ich nickte und fuhr damit fort, meinen Keks zu verspeisen.Endlich kam auch Ma in die Küche. Vater eilte zur Tür, um sie zu begrüßen. Er schlang einen Arm um ihre Taille und gab ihr einen Kuss. Sie grinste. Es war schön zu sehen, dass die beiden sich auch nach über zwanzig Jahren Ehe noch genauso liebten wie am ersten Tag. Ich wusste gar nicht, wie die beiden sich eigentlich kennengelernt hatten. Anders als Pa stammte Ma nicht aus einer adligen Familie, und die beiden waren so unterschiedlich, aber dennoch wie füreinander geschaffen.
Ma riss sich nun endlich von ihrem Ehemann los und stellte sich an den Herd. Einige Minuten später wehte ein köstlicher Duft zu uns hinüber und kurz darauf servierte Ma drei dampfende Teller. Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Nach einem kurzen Tischgebet stürzte ich mich regelrecht auf die warme Mahlzeit.
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Vale
AcciónIch habe in meinem Leben viel gesehen. Ich bin weit gereist, habe etliche Menschen getroffen. Ich habe etliche Menschen getötet. Ich habe mehr verloren, als ich zu besitzen glaubte. Meine Geschichte ist keine schöne. Sie ist kein Märchen und kein...