63. Du bist krank!

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Hochkonzentriert zog ich den Stift am Rand meines Lids entlang, jedoch zerstörte ich mein Kunstwerk auf halbem Wege, wie schon die letzten gefühlten zehntausend Mal.
Dieses eine Mal jedoch war nicht meine Inkompetenz schuld, sondern die verdammte Hausklingel.
Das redete ich mir jedenfalls ein.
Mit einen entnervten Aufschrei, pfefferte ich den Stift achtlos zu meinen restlichen Schminksachen, ehe ich aus dem Zimmer eilte.
Wer war das denn jetzt?
Ich war ohnehin schon zu spät dran, in weniger als 20 Minuten würde die erste Stunde beginnen und das auch noch bei Mr. Donald.
Keine rosigen Aussichten auf eine Verspätung. Wieso musste ich auch gerade heute das Bedürfnis verspüren, mich zu schminken?!
"Was machst du denn hier?", entfuhr es mir überrascht, als ich die Tür aufriss und in Ben' blaue Augen blickte.
"Guten Morgen Sonnenschein! Café gefällig?", auffordernd streckte er mir einen der zwei Pappbecher entgegen, von dem ein betörender Geruch ausging.
"Danke.", murmelte ich überrumpelt und nahm den Becher.
"Also, bist du fertig? Du hast da noch was...-ich hab zwar keine grosse Ahnung was ihr Weiber euch immer ins Gesicht malt, aber dass da sieht nicht gerade danach aus.", amüsiert kam er mir auf Augenhöhe, wobei dieser Idiot ganz schön in die Knie musste.
Ich fasste mir ans Gesicht und plötzlich wurde mir wieder bewusst, wo ich in wenigen Minuten zu sein habe und wie ich im Augenblick noch aussah.
Fazit, noch überhaupt gar nicht Schultauglich.
Ich trug zwar meinen Strickpullover, doch meine Beine steckten immer noch in meiner Pyjamahose.
"Scheisse!", fluchte ich, machte auf dem Absatz kehrt und rannte wieder hoch in mein Zimmer.
Ben folgte mir und betrat mein Zimmer, gerade als ich mir meine Jeans übergezogen hatte.
Ich verkniff mir einen Kommentar übers Anklopfen, würde ohnehin verschwendete Energie sein.
"Also, was tust du hier? Jaron wird gleich hier sein."
"Genau der hat mich geschickt.
Er lässt die Schule heute ausfallen. Aber da er dich wegen deiner momentanen Situation nicht allein lassen will, spring ich für ihn ein."
"Wegen meiner momentanen Situation?", fragte ich hellhörig.
Ben, der es sich bereits auf meinem ungemachten Bett bequem gemacht hatte, wurde plötzlich ernst und da wusste ich, er wusste bescheid.
"Er hat es dir also gesagt.", meine Stimme verriet, wie begeistert ich davon war.
Ben zuckte mit den Schultern,"Er macht sich Sorgen."
"Da ist er nicht der Einzige."
"Kannst du es ihnen verübeln?", Ben warf mir einen bedeutungsschweren Blick zu, auf welchen ich nichts mehr erwiderte.
Nein, konnte ich nicht.
Ich wusste, das Jaron mich nicht mehr aus den Augen lassen würde. Auch wenn ich den Polizeischutz für den Moment losgeworden war, hatte ich immer noch einen Aufpasser. Diesen hatte ich aber schon weitaus länger, wie mir gestern erst so richtig bewusst wurde.
Das Abendessen war um Einiges besser gelaufen, als ich zunächst angenommen hatte. Dad hatte sogar etwas seine abwertende Haltung Jaron gegenüber fallen gelassen.
Was jedoch, wie ich vermutete, an ihrer kleinen Unterredung unter zwei Augen lag.
"Du hast gesagt, er lässt die Schule ausfallen, wieso?", erkundigte ich mich, während ich hastig den Rest der Schminke entfernte.
"Jackson' Werte sind diese Nacht gesunken. Die Ärzte sind in Sorge.", Ben' Stimme war leiser und ich musste in meiner Bewegung innehalten, die Treppe runter zu trampeln. Es überkam mich wie ein Kübel eiskaltes Wasser.
"Jackson...", murmelte ich mit einem Anflug von schlechtem Gewissen.
"Ich habe ihn schon lange nicht mehr besucht! Gott, ich bin eine schlechte Freundin!"
Eine Hand legte sich auf meine Schulter,"Das bist du nicht und das weisst du. Du hast im Moment nur selbst viel um die Ohren. Wir können nach der Schule ins Krankenhaus fahren wenn du willst aber jetzt müssen wir los.
Das wird bestimmt lustig. Ich habe schon lange keine Schulbank mehr gedrückt."
Ein Blick auf meine Armbanduhr, verriet mir, dass er recht hatte.
Ich würde ohnehin zu spät kommen. Jedoch nur minimal wenn wir jetzt losfuhren.

***

Ich behielt recht.
Ganze 5 Minuten war ich zu spät.
An sich kein Weltuntergang, doch für unseren lieben Herr Donald anscheinend schon.
Als Strafe durfte ich sogleich die verdammte Matheaufgabe an der Tafel lösen, die ich nicht mal annähernd kapiert hatte.
Natürlich musste ich mir zuvor ein paar spitze Kommentare gefallen lassen, doch alles war besser als Nachsitzen.
Ben dagegen war fast an die Decke gegangen und hatte allem Ernstes angefangen mit der Ente zu diskutieren.
Ich musste ihn mit meinen fiesesten Blicken zum Schweigen zwingen, sonst würde ich wahrscheinlich jetzt noch in einem Raum sitzen und mich mit einen Aufsatz übers Zuspätkommen abmühen.
"Ich dachte schon meine Lehrerin sei eine Hexe gewesen aber dieser Lackaffe hat wirklich den Vogel abgeschossen! Jetzt weiss ich au wieder wieso ich die Schule geschmissen habe.", empörte sich Ben neben mir, während er seinen Wagen durch den Verkehr lenkte.
"Du hast die Schule abgebrochen?"
Ben nickte,"Mit dreizehn. Da bin ich von zu Hause abgehauen. Habs mit meiner Mutter und ihren Typen nicht mehr ausgehalten."
"Das tut mir leid. Ich dachte, da Jaron und Jackson die Schule wieder aufgenommen hatten.."
"Sie waren schon damals klüger als ich.", scherzte Ben.
"Ich habe zwar mit ihnen unter einem Dach gewohnt, doch die Schule war zu dieser Zeit kein Thema für mich. Erst seit ein paar Jahren hole ich alles online nach."
"Hattest du denn nie einen Traumjob? Etwas was du unbedingt erreichen wolltest, wenn du erwachsen bist?", fragte ich neugierig.
"Du meinst Jobs wie Pilot, Raumfahrer oder Polizist?"
Ich nickte.
"Nicht wirklich.", gestand er, während er auf den Highway fuhr.
Auf meinen verwunderten Blick hin, fuhr Ben fort,"Ich hatte keine Zeit, meine Fantasie freien Lauf zu lassen.
Ich musste auf meine Mutter aufpassen, auch wenn sie das nicht so sah. Bis ich irgendwann einzig allein um mein Überleben kämpfte. Da gab es kein Platz für Hirngespinste.
Das war ein Luxus der mir nicht gegönnt wurde."
Ich schwieg einen Moment.
Es war ganz schön hart so etwas zu hören, zumal ich nicht mal annähernd nachvollziehen konnte, wie seine Kindheit für ihn gewesen sein musste.
Eins war klar, Ben, Jaron und Jackson hatten viel hinter sich, haben viele schlimme Dinge erlebt, doch trotz allem haben sie was gewonnen. Etwas um das sie viele, noch so reiche Leute beneiden würde, Familie.
Familie und grenzenlose Loyalität.
"Und jetzt? Hast du jetzt den Luxus?"
Ben schmunzelte und bog in die Einfahrt des Hospitals von New Jersey,"Psychologie. Ich möchte Psychologe werden."
"Sorgenfresser also.", murmelte ich trocken, konnte mir ein Grinsen aber nicht verkneifen.
Ben lachte,"Nenn es wie du willst."
"Und? Was hält dich auf?"
"Dieses Leben, Kleine."
Bevor ich nachhaken konnte, geschweige denn seine Worte richtigen Sinn ergaben, betraten wir das Krankenhaus und liefen geradewegs in die Arme von Dylan.
"Gut, dass ihr da seit. Trevor und Jaron sind bei ihm."
"Hat sich was verändert?", wollte Ben wissen.
"Die Werte steigen wieder. Jedoch weiss keiner mehr wie lange das alles noch so gehen kann."
"Verdammt! Er braucht das verfluchte Herz!"
Dylan nickte ernst,"Ich weiss. Und glaub mir, ich setze alles daran, dass er es bekommt."
Wie auf Kommando klingelte sein Handy und er nahm, mit einem letzten Blick auf uns, den Anruf entgegen.
"Das klingt nicht gut.", sagte ich leise, während ich beobachtete wie Dylan diskutierend auf und ab lief.
"Er wird es schaffen. Er muss es einfach."
Ich erwiderte darauf nichts.
Alles was ich jetzt sagen würde, wäre eine Lüge.
Ich konnte nicht sagen, dass alles wieder gut werden würde, konnte nicht versprechen, dass Jackson ein neues Herz bekommen würde, da ich es schlichtweg nicht wusste und mittlerweile auch nicht mehr wirklich glaubte.
Auch wenn ich es nicht gerne zugab. Mit der Zeit kamen auch die Zweifel.

Beyond all reason - Gegen jede VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt