01| sweet war

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i'm fading away with more colours than everybody else- valena pérez

Juli 2020
{Valena Pérez}

"Abuelita, ich bin es", flüstere ich und streiche über ihren Handrücken.

Ihre verblassten Augen blicken mich irritiert an. Doch dann lächelt sie.

"Carmen", sagt sie zufrieden. Ihre Gesichtszüge werden weicher.

"Nein, nicht Carmen. Valena, deine Enkelin", erkläre ich leise. Sie schüttelt ihren Kopf.

"Du bist Carmen. Meine Tochter", erklärt sie, doch reißt plötzlich ihre Augen auf, "Schnell, du musst den Herd ausschalten. Ich habe ihn angelassen! Wärst du so lieb und würdest ihn ausschalten?"

Ich nicke mit meinem Kopf. Jegliche Widerstände sind sinnlos. Normalerweise würde ich ihr sagen, dass ich es bin. Ich würde ihr sagen, dass sie den Herd nicht angelassen hat.

Doch heute fehlt mir einfach die Kraft dazu. Ich schaffe es nicht die Worte über die Lippen zu bringen. Ich stütze mich an dem Tisch ab und stehe auf.

"Weißt du, wo dein Vater heute ist? Er hat mir gar nicht bescheid gesagt, dass er geht!", dringt die Stimme meiner Großmutter an mein Ohr.

Weil er es nicht mehr kann.

"Er ist... Einkaufen"

Seit mein Großvater gestorben ist, verwenden wir 'einkaufen' als Synonym für tot.

Manchmal denke ich, dass es einfacher wäre einkaufen zu gehen.

"Achso."

Ich drehe meinen Kopf zu ihr, wobei meine hellbraunen Haare über meine Schultern fallen. Sie lächelt mich zufrieden an. So wie immer, wenn ich ihr berichte, dass er bloß einkaufen ist.

"I'm captured in the dark
Living in a cage of love
Trying to break out but failure is my curse"

Das Lied meines Lebens. Niemand versteht den Sinn dahinter. Niemand tut es, doch jeder singt dazu. Jedes Radio spielt es, ohne auf die Lyrics zu achten.

Manchmal denke ich, dass die Lyrics in der Stimme des Sängers untergeht, weil niemand das Bedürfnis hat tiefer einzutauchen.

Ich widme mich den Tellern, die ungewaschen auf der Spüle liegen. Sie sind ziemlich verkrustet.

Ich nehme einen in die Hand und mache das warme Wasser an. Mit einem Tropfen Spüli versuche ich das verkrustete Fett abzubekommen, das sich so schwer ablösen lässt.

"Wann kommt denn dein Vater wieder nach Hause?", fragt sie mich erneut. Meine Schultern sinken unter dem Druck, den ich verspüre.

"Bald", seufze ich nach einer Zeit, in der ich erstarrt war. Meine Hände beginnen automatisch an dem letzten bisschen Fett herumzurubbeln.

-

"Ich gehe dann mal Abuelita", sage ich und mache noch einen Haargummi um ihre Haare. Jedes Mal wenn ich komme, mache ich ihr bevor ich gehe einen Dutt. Einen, wie sie ihn früher immer getragen hat.

Sie fasst mich an meinen Händen und zieht mich zu sich, sodass ich sie ansehe. Sie ist erst 63 und sieht noch ziemlich jung aus. Doch ihre Schönheit, die der meiner Mutter gleicht, verblasst allmählich.

"Kannst du noch das Radio anmachen?", fragt sie lächelnd. Ich nicke und laufe auf das alte Ding zu, das sie auf keinen Fall durch eine neuere Version ersetzen möchte. Schon als ich klein war stand es an derselben Stelle. An der Stelle neben dem Kreuz, das an der Wand hängt und der Blumenvase die auf der Kommode steht.

Eine mir nur allzu bekannte Stimme tönt durch das Radio. Camila Cabello.

Ihre Stimme, doch mein Lied, das zu einem mindestens genauso großen Hit wie 'Havana' geworden ist. Ich muss sagen, dass es Spaß gemacht hat, mit ihr daran zu arbeiten. Dennoch hasse ich es, wenn immer die Sänger den ganzen Rum einheimsen, obwohl sie fast nichts mit dem Lied zutun haben.

Meine Abuela nickt zufrieden und lehnt sich in ihrem Schaukelstuhl zurück. In ein paar Minuten müsste ihre Pflegerin vorbeikommen. Ich lege, wie immer, den Schlüssel unter die Korbmatte vor der Tür.

"Bis bald", verabschiede ich mich und mache die Tür hinter mir zu.

Ich laufe den Steinweg raus zu der Straße, die von Palmen gesäumt ist. An jeder Ecke steht ein Hibiskus.

Als mein Handy klingelt nehme ich den Anruf an. Mit einem Handgriff klemme ich es mir zwischen meine Schulter und mein Ohr, um in meiner Tasche den Schlüssel für mein Auto zu suchen.

"Alle reißen sich um dich!", höre ich die fröhliche Stimme meines Managers sagen. Ich ziehe meine dichten Augennbrauen zusammen.

"Tun sie das?", seufzend ziehe ich die abgenutzten Schlüssel meiner Schrottkarre heraus.

"Ja! Seit Camila will dich jeder haben! Wirklich jeder! Aber das Beste ist, dass Shawn Mendes dich als seine Songwriterin haben will!"

Ich halte inne und nehme das Handy wieder in meine Hand.

"Was?", hake ich nach und schmeiße meine Tasche in den Wagen.

"Genau, Shawn Mendes will dich als seine Songwriterin"

"Wer...ach warte ist das nicht der, der Stitches gesungen hat?", frage ich und ziehe meine Augenbraue in die Höhe.

"Und Treat You Better, In My Blood, There's Nothing Holdin' Me Back...Und Mercy", führt John meine Aufzählung fort.

"Ist ja gut, ich habs verstanden. Er hat schon viele Hits gehabt", brumme ich etwas angepisst. Hits die wahrscheinlich nicht mal er selbst geschrieben hat.

"Wieso so pessimistisch?"

"Du weißt ganz genau, dass ich eine Schreibblockade habe! Da kommt einfach nichts aus meinem Hirn raus! Nada!", seufze ich und versuche die Haare, die mir durch einen Windstoß an die Lippen geklebt wurden, abzufrimeln.

"Ich hoffe für dich, dass sie sich sehr schnell löst, denn ich habe schon zugesagt", trällert mein Manager, der meiner Meinung nach viel zu enthusiastisch an die Sache herangeht.

"Wieso machst du das immer? Ich will nicht. Ich weigere mich. Ich habe keine Lust auf Shawn Mendes", nörgele ich. Damit lege ich auf.

Kaum, dass ich das getan habe, klingelt mein Handy erneut.

"Willst du, dass wir beide arbeitslos auf der Straße landen?", fragt er noch einmal mit Nachdruck, bevor er auflegt.

Ich schmeiße mein Handy auf den Beifahrersitz und fahre los.

Shawn Mendes. Pah.

Ich schalte meine Playlist für besonders schreckliche Tage an.
Sie besteht hauptsächlich aus Heavy Metal. Manchmal verspüre ich einfach den Drang zu schreien.

sweet war [s.m]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt