36| sweet war

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i'm broken and hopeless, i'm getting my depressive kicks - valena pérez

September 2020
[Valena Pérez]

Eine Frau in einem beigen Leinengewand schnippt mit dem Finger und deutet auf den Platz vor Shawn, der noch leer ist. Als wäre ich ein Hund, dem man Befehle geben kann. Einer, der jetzt Platz machen soll. Die kann mich mal.

"Was zur Hölle soll das? Ich werde das nicht machen! Ich hin nur hier, weil mich mein Manager gezwungen hat. Niemand hat mir gesagt, dass Shawn auch hier ist. Oder Andrew. Das ist total lächerlich"

"Jetzt zier dich nicht so. Du wirst sehen. Das alles wird euch gut tun", sagt die Frau in einer seltsamen angestrengt unangestrengten Stimme. Ich bekomme fast die Krise, wenn ich sie so ansehe. Ihre rote Brille balanciert vorne auf ihrer Nase und harmoniert mit ihren übergroßen Kugelohringen, die ebenfalls rot sind. Schon als ich gekommen bin, konnte ich nicht anders, als meinen Kopf schief zulegen und mich zu fragen, wie ihre Ohren nur dieses Gewicht tragen können.

"Ich ziere mich nicht, ich will mich nur nicht in die Arme eines Idioten fallen lassen. Was dann passieren wird ist ja wohl klar. Er wird mich fallen lassen. So wie er es mit jedem Mädchen macht", brumme ich und verschränke meine Arme, während ich zu Shawn schiele, der mich angepisst ansieht.

"Du kennst mich doch gar nicht. Traust du dich etwa nicht?", zischt er dann, wie ein Drogendealer, der gegen eine Wand in einer dunklen Gasse gelehnt ist und versucht einen irgendeinen Stoff anzudrehen. Ich ziehe meine Augenbrauen hoch, schüttele dann aber meinen Kopf.

"Los. Mach die Vertrauensübung, Valena. Euer Verhältnis ist zerrüttet", höre ich die Therapeutin wieder sagen. Ich fasse es nicht, dass es hierzu gekommen ist. Als wären wir ein Pärchen, das sich scheiden lassen will, es aber wegen der Kinder noch einmal probieren will. Vermutlich ist es auch so. Nur, dass die Kinder unsere Musik ist.

"Unser Verhältnis? Alles was da war, war ein Kuss!", schreie ich schon fast und stürme raus. Immer, wenn ich wütend werde, kommt mein spanischer Akzent besonders stark zum Vorschein, was ich hasse, da ich mir dann wie ein Stereotyp in einer Fernsehserie vorkomme.

Jetzt gerade klinge ich noch viel schlimmer.

Ich sehe aus dem Augenwinkel noch, wie Shawn seine Augen verdreht.

Andrew, der bis gerade eben noch desinteressiert auf sein Handy gestarrt hat, schreckt erschrocken hoch. Doch bevor ich seine Reaktion mitbekommen kann, bin ich auch schon aus dem Zimmer verschwunden. Weg von all dem.

Es sind erst zwei Wochen vergangen, seit Abuelita gestorben ist. Wie soll ich das so schnell verdauen? Sie war mir eine der liebsten Personen in meinem Leben, die jetzt einfach so, vom einem zum nächsten Tag verschwunden ist. Und das Schlimmste ist, dass ich meine Zeit mit Shawn verbringen musste, anstatt bei ihr sein zu können. Das werde ich meinem Manager und Shawn niemals verzeihen können.

Er hat mir meine Zeit geklaut. Zeit mit einem geliebten Menschen ist das Kostbarste, das man haben kann. Er hat es mir einfach geklaut. Es kommt mir vor, als hätte ich sie verraten. Ich war in dem Moment, in dem ich am dringendsten bei Abuelita sein sollte, nicht für sie da.

Mit nur wenigen Schritten biege ich um die Ecke, wo ich meine Fassung nun endgültig nicht mehr halten kann. Ich lasse mich gegen die Wand fallen und rutsche an ihr hinunter, während mir Tränen über mein Gesicht strömen.

Es fühlt sich an, als würde sich meine Lunge zuschnüren, als ich plötzlich keine Luft mehr bekomme. Aus Panik schnappe ich wie verrückt nach Luft, doch es wird nur noch schlimmer. Immer schneller werden meine Versuche nach Sauerstoff zu ringen und immer kürzer werden die Abstände, in denen ich erneut scheitere. Je weniger Luft meine Lungen befüllt, desto mehr Angst bekomme ich. Für mich ist die Angst ungreifbar, ich weiß nicht wovor ich mich fürchte. Ich bekomme nur immer mehr Panik, die sich wie plötzliche Schübe immer wieder verstärken.

Mein Blick ist starr auf den Boden gerichtet, bis ich schließlich Schritte höre. Mein Blick zuckt nach oben zu der grauenhaften gelben Wand, die wie ein zitronenfarbener Albtraum über meine Netzhaut flackert.

Shawn soll mich nicht so sehen. Meine Atmung beschleunigt sich, falls denn überhaupt möglich, noch mehr.

"Valena?", höre ich ihn fragen. Ich kann nicht deuten, was der Ton in seiner Stimme besagt, doch es gibt mir ein unangenehmes Gefühl, das ich am liebsten, wie eine Schlange ihre Haut, abstreifen würde.

"Geh weg. Ich brauche dich nicht. Ich... Geh einfach weg!", stammele ich, wie das Klischee eines Teenagers, das seine Eltern anschnauzt.

"Valena...", setzt er erneut an. Erstaunlicher Weise, ich weiß nicht weshalb, aber auf einmal wird meine Atmung wieder langsamer und regelmäßiger. Vermutlich, weil ich mich darauf konzentriere, ihn zu hassen. Das altbekannte Gefühl, wenn ich ihn sehe, ist wieder da. Was vor zwei Wochen sonst noch war, keine Ahnung.

Wer dieser Junge vor mir ist? Keine Ahnung.

Nur jemand, mit dem ich gezwungener Maßen arbeiten muss.

"Verpiss dich endlich", zische ich.

Jemand, auf den ich trotzdem eine unheimliche Wut habe.

"Verdammte Scheiße", höre ich Shawn fluchen, bevor er sich wieder aus dem Staub macht. Ich kann nicht ganz verstehen, weshalb, aber es ist besser so. Definitiv.

Ich greife nach meinen Handy, vergesse aber, was ich eigentlich tun wollte. Etwas, das mir leider sehr oft passiert. Aus diesem Grund öffne ich  Spotify, wo mir direkt eine neue ach so tolle Enpfehlung entgegenspringt.

Shawn Mendes, don't leave me like that.

Genervt stecke ich mir meine Kopfhörer in die Ohren. Ich will mir das Lied gar nicht anhören.

Doch mich irritiert, dass er es scheinbar in den letzten Wochen geschrieben haben muss. Meine Augen ruhen auf dem schlichten Cover der Single. Mein Daumen bewegt sich fast automatisch auf den Play Button. Ich schließe meine Augen und lasse meinen Kopf gegen die Wand sinken.

sweet war [s.m]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt