G R E T A
Mir den Schlaf aus den Augen reibend setzte ich mich im Bett auf und streckte mich. Dabei fiel mein Blick auf Harry, der noch immer friedlich neben mir schlief. Die Sonne strahlte zum Fenster herein und erhellte die kleine Wohnung des jungen Lehrers. Ich sah auf die Uhr.
„Oh verdammt", murmelte ich und rüttelte an Harrys Schulter. Dieser gab ein protestierendes Geräusch von sich.
„Es ist halb neun, wir sollten schon längst beim Unterricht sein!", rief ich panisch, sammelte meine Klamotten ein und zog mich hastig an.
Diese Worte schienen Harry geweckt zu haben - oder es war sein Pulli, den er mir zum Schlafen geliehen hatte, der nun in seinem Gesicht landete.
„Freistunde", grummelte er verschlafen.
„Ich aber nicht!", sagte ich panisch, hastete zum Bad und kämmte mir eilig die Haare.
„Ich hätte Chemie gehabt", rief ich ihm zu, „und jetzt gerade Englisch!"
Ich überlegte kurz. „Ich kann Englisch."
Dann entfuhr mir ein kleiner, panischer Aufschrei. „Ich kann aber kein Chemie!"
Mittlerweile stand Harry in der Badezimmertür. Er streifte sich gerade eines der grässlichen Hawaii-Hemden über.
„Du hattest Nachsitzen", erklärte er, „weil du dich bei der Veranstaltung so schlecht verhalten hast."
„Mitten im regulären Unterricht?!", fragte ich ungläubig und er zuckte mit den Achseln.
„Sonst hatte ich keinen Termin mehr frei."
Ich nickte, nun schon etwas beruhigter. Langsam trat er auf mich zu und zog mich an sich.
„Alles in Ordnung", murmelte er, „ich lass dich schon nicht im Stich."
„Sehr beruhigend", gab ich zurück und kuschelte mich an ihn. Sein Hemd roch frisch gewaschen, hatte allerdings auch einen Hauch seines Geruches an sich haften.
„Ich werde in Chemie sowas von durchfallen", murmelte ich dann. „Ich kann absolut nichts!"
„Das ändern wir jetzt", meinte Harry bestimmt. „Nutzen wir die Zeit doch für eine kleine Nachhilfestunde in Chemie."
Ich grummelte unzufrieden, nickte dann jedoch.
„Seit wann kannst du eigentlich Chemie?", wollte ich wissen und zog eine Augenbraue hoch. „Ich dachte Deutsch, Bio, Sport und Theater sind deine Fächer ..."
„Stimmt", antwortete er, während er seinen Schreibtisch nach Block und Stift durchsuchte, „aber das heißt ja nicht, dass ich in allen anderen Fächern scheiße bin. Ich war damals echt gut in Chemie!"
„Damals", wiederholte ich, „hör auf damit! Das klingt so, wie als wärst du ein alter 60-jähriger Sack."
„Komm her", befahl er und zog einen Stuhl neben sich. „Der alte Sack von 60 Jahren erklärt dir jetzt mal Chemie."
„Sugar-Daddy", brummte ich und schauderte. Diese Vorstellung wollte ich gar nicht haben. „Ist Edward in Twilight eigentlich ein Sugar-Daddy?", fragte ich dann und Harry warf mir einen verstörten Blick zu.
„Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht", sagte er. „Und du solltest dir Gedanken über Chemie machen. Also, fangen wir einfach an: Säure-Base-Reaktion. Was passiert?"
„Eine ... Säure und eine Base reagieren?", mutmaßte ich.
„Richtig. Kennzeichen einer Säure?"
Ich sah ihn mit großen Augen an.
„Kipp' es dir über die Hand und du merkst, dass es 'ne Säure ist. Oder hoffentlich nicht", erklärte ich und stand auf.
„Können wir nicht was anderes machen? Ich werde Chemie nach diesem Jahr nie wieder brauchen!"
Harry verdrehte die Augen.
„Aber dieses Jahr musst du es noch ein letztes Mal schaffen", erinnerte er mich an die bittere Wahrheit.
„Egal", brummte ich. „Ich lern' wann anders."
„Du hast immer noch Nachsitzen", erinnerte er mich.
„Wolltest du nicht unbedingt irgendetwas erledigen, für das du mich nicht brauchst?", fragte ich flehentlich. Ich wollte nicht noch mehr Chemie machen müssen. Da war mir selbst Englisch mit meiner verrückten Klasse lieber.
Harry seufzte.
„Ich muss Schweineherzen besorgen gehen", sagte er dann. Mir klappte die Kinnlade runter.
„Ihh", machte ich dann angeekelt. „Wofür?"
„Einen Versuch in Bio", erläuterte er und befahl mir durch eine Handbewegung, ihm zu folgen.
Murrend lief ich hinter ihm her zu seinem Auto.
„Die armen Schweine", jammerte ich derweil. „Was würdest du denn sagen, wenn irgendjemand dein Herz aufschlitzen würde, um es für den Biounterricht zu verwenden?!"
„Organspende nennt man das", grinste mein Freund und startete den Motor.
„Aber doch nicht unfreiwillig!", protestierte ich. „Vielleicht wollte das Schwein ja gar nicht getötet werden?"
„Ich bin mir sicher, dass es nicht getötet werden wollte", erklärte Harry, „aber das ist mir ziemlich egal. Es musste ja ohnehin sterben."
„Ich sollte Vegetarier werden", stellte ich fest. „Das sind schon ziemlich süße, ziemlich hilflose Tiere, die hier getötet werden, nur damit wir unseren Hunger nach Fleisch stillen können ..."
„Na dann viel Glück dabei", lachte Harry.
Ich sah vor mich auf die Straße.
„Aber ich hab' voll Bock auf Schnitzel", musste ich zugeben.
„Dumm gelaufen", kommentierte Harry.
„Ja", stimmte ich zu, sah wieder nach vorne und riss im gleichen Moment die Augen auf.
„Stop!", schrie ich panisch, als ich Max unmittelbar vor dem Auto sah.
Keine Sekunde zu spät trat Harry auf die Bremse und hielt nur einige Zentimeter vor dem erschrockenen Referendar.
Eilig sprang ich aus dem Auto.
„Max, bist du okay?", rief ich atemlos.
Harry folgte mir ein wenig langsamer.
„Das war knapp", sagte der Lockenkopf, klang dabei allerdings nicht sonderlich besorgt. Max sah auf das Auto vor sich und nickte, immer noch etwas benommen.
„Scheint wohl so", murmelte er.
„Zum Glück habe ich dich noch gesehen", murmelte ich erleichtert. Ein Autounfall, bei dem ich einen guten Kumpel meines Bruders - und mittlerweile vielleicht auch einen meiner Freunde - umgebracht oder auch nur verletzt hätte, konnte ich wirklich nicht gebrauchen.
„Sollen wir dich mitnehmen?", wollte ich dann besorgt wissen. „Wir können dich eben zur Schule fahren."
Er schüttelte den Kopf.
„Schon okay, es ist ja nichts passiert", murmelte er. „Aber danke."
Ja, zum Glück war nichts passiert.
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They Don't Know About Us || l.t. ; h.s. ✓
Fanfiction❝ One touch and I was a believer. ❞ ©2018, neliery und Moenqueen „Weißt du was? Wir werden die alten Damen sein, die im Altenheim Ärger machen." ~ Greta zu Nia ***** Etwas Verbotenes zu tun, hat immer einen bestimmten Reiz, vor allem für die beiden...