nueve: Die Geliebte und der Baum

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G R E T A

Endlich, nach einer viel zu langen Zeit, war das Wochenende mal wieder angebrochen. Normale Leute hätten ihren Tag natürlich zu Hause oder bei Freunden verbracht und ihre Lehrer mit gutem Gewissen vergessen, aber in einem Internat herrschten da andere Regeln. Denn statt Schule und Lehrer einfach mal zu verdrängen, hatten Nia und ich den tollen Einfall gehabt, uns in die Theater-AG einzuschreiben - besser gesagt damit fortzufahren. Wir hätten ja nie ahnen können, dass die beiden neuen, motivierten Lehrer Mr Styles und Mr Tomlinson den Kurs dieses Schuljahr übernehmen würden!
Also endete es damit, dass meine beste Freundin und ich um elf Uhr morgens im Theaterraum auf die Ankunft unserer Lehrer warteten. In der letzten Stunde hatten wir schon beschlossen, Ashtons selbstgeschriebenes Stück aufzuführen. Da es von ihm war, war schon einmal klar, dass er die Hauptrolle bekommen würde, doch nun warteten wir gespannt auf die Entscheidung von Mr Styles und Mr Tomlinson. Es ging um die zweite Hauptrolle, die Geliebte des von Ash verkörperten Jon, Viktoria.
Als die Tür mit Schwung geöffnet wurde und die beiden jungen Männer eintraten, wurde es daher ganz gegen unsere Gewohnheit still. Jeder wartete gespannt.
Die beiden Braunhaarigen sahen über die Köpfe der Klasse hinweg.
„Guten Morgen."
Keine Reaktion von den gespannten Schülern.
„Wer wird jetzt Viktoria?", rief einer aus der Gruppe und Mr Styles' Kopf schoss zu dem Unruhestifter, dann wieder zurück zu seinen Unterlagen, bis sich sein Kollege schließlich räusperte.
„Es gibt zwei Personen, die für diese Rolle geeignet wären", erklärte er uns dann.
„Nia, Greta, einigt euch."
Sofort blickte ich zu der Grauhaarigen.
„Ich will, ich will!", rief ich freudig und klatschte in die Hände. „Ich will 'ne Hauptrolle spielen!"
Meine Freundin schüttelte grinsend den Kopf und hob die Hände.
„Schon gut, ich hatte dafür letztes Jahr die größere Rolle. Dann hab' ich dieses Mal nicht so viel zum auswendig Lernen."
Mit einem Freudenschrei riss ich die Arme in die Luft.
„Jaaa! Ich darf die Hauptrolle sein!"
Schmunzelnd murmelte Nia leise noch zu mir: „Außerdem wird Ash sich mehr darüber freuen, dich küssen zu dürfen."
Erschrocken weiteten sich meine Augen. Dieses kleine Detail hatte ich ja komplett vergessen! Dann jedoch zuckte ich gleichgültig mit den Achseln.
„Das passt schon", beruhigte ich mich selbst, „es ist nur eine Szene und dabei fällt der Vorhang ja schon. Also wird das kein großes Drama werden."
Aufgeregt blätterte ich in meinem Text herum.
„Viel Spaß beim Lernen", wünschte meine grauäugige Freundin mir noch, allerdings würde das gar nicht so schlimm werden. Ich konnte Texte relativ schnell fehlerfrei wiederholen.
„Und was für eine Rolle spiele ich dann?", fragte Nia erwartungsvoll in die Runde.
Verlegen wechselten die beiden Lehrer einen Blick.
„Nun ja ...", begann Mr Styles irgendwann, „es gibt nur noch eine andere freie Rolle."
Abwartend verkreuzte meine Freundin die Arme vor der Brust und zog die Augenbrauen nach oben.
„Und die wäre?"
„Um genau zu sein ...", stotterte der Lockenkopf, „handelt es sich um einen Baum."
Einen Moment lang herrschte eine absolute Stille, bis ich es nicht mehr unterdrücken konnte und zu lachen begann.
„Zu geil! Du bist ein Baum, Nia!"
Sie warf mir einen resignierten Blick zu.
„Und du bist Ashtons Freundin", konterte sie, woraufhin von mir und dem Erwähntem gleichzeitig ein 'Hey, was soll das denn jetzt heißen?!' kam.
„Ohhh, bekommst du dann auch so ein tolles Kostüm mit Äpfeln dran?", schwärmte ich träumerisch und malte mir schon gedanklich die Grauäugige in ihrem wundervollen Baum-Outfit aus.
„Lässt sich einrichten", meinte Hannah, eine aus unserer Theatergruppe, die für die Kostüme zuständig war und entzückt klatschte ich in die Hände.
„Du wirst fabelhaft aussehen, Nia!"
„Eigentlich", mischte Ash sich in das Gespräch ein, „handelt es sich bei der Rolle ja auch um eine Dryade."
„Bitte was?", fragten meine Freundin und ich gleichzeitig und der Schlauste unserer Klasse zuckte mit den Achseln.
„Genau aus dem Grund habe ich es ja auch Baum genannt. Ich habe keine Lust, zehn Mal täglich erklären zu müssen, was eine Dryade ist."
Ich legte die Stirn in Falten.
„Aber was ist denn eine Dryade?"
Er seufzte genervt.
„Sie stammen aus der griechischen Mythologie und sind ein Begriff für Nymphen der Eichenbäume. Mittlerweile werden als Dryaden aber alle Baumnymphen angesehen ..."
„Und was sind Nymphen?", murmelte Nia kleinlaut und kratzte sich am Hinterkopf, wodurch sich einige Haare aus ihrem heute morgen eilig geknoteten Dutt lösten.
„Du weißt nicht was Nymphen sind?", entgegnete ich ungläubig.
„Nein? Sollte ich das?"
Ich verdrehte die Augen.
„Das ist so was wie 'ne Fee", erklärte ich ihr dann.
„Nun ja", korrigierte mich Ash jedoch, „es sind Naturgeister der römischen und griechischen Mythologie. Zeitweise wurde es sogar als ein Begriff für Priesterinnen genutzt."
„Sag' ich doch", grummelte ich, „'ne Fee."
„Oh Gott, nein", stöhnte Ashton verzweifelt, „Feen stammen aus der keltischen Mythologie! Das ist 'ne ganz andere Ecke!"
Genervt verdrehte ich die Augen.
„Keltisch, römisch, griechisch, das ist doch alles dasselbe! Es stammt von irgendwo aus dieser Welt und ist schon sehr lange her, das reicht für mich. Aber ich bin immer noch der Meinung, dass Nia ein Baum ist."
„Hey!", machte diese protestierend und boxte mich in die Seite, woraufhin ich die Luft aus meinem Mund hörbar entweichen ließ und mir die schmerzende Stelle rieb.
„Aua", jammerte ich kläglich.
Im selben Augenblick hörte ich ein lautes, auffälliges Räuspern von Mr Styles.
„Wenn ihr euch schon schlagen müsst, dann doch bitte so, dass ich es nicht mitbekomme. Sonst könnte ich ja versucht dazu sein, dich noch einmal nachsitzen zu lassen, Nia."
Meine Freundin tippte sich an die Stirn.
„Wird gemacht, Sir! Beim nächsten Mal passe ich besonders gut darauf auf, dass Sie mich nicht sehen. Aber es ist doch auch ein bisschen fies mit zwei Lehrern, finden Sie nicht?"
„Ruhe dahinten", tadelte uns nun auch Mr Tomlinson und wandte sich dann seinem Kollegen zu, „und du hältst bitte auch die Klappe, Harry, ich versuche hier gerade was zu erklären."
„Das hat gesessen", kicherte ich leise, als ich Mr Styles' gekränkten Blick sah.
„Klappe, Greta", grummelte Mr Styles.
„Dachluke, Mr Styles", gab ich frech zurück.
„Nachsitzen, Greta", erwiderte er.
„Sie sind fies, Mr Styles."
Er grinste.
„Ich weiß, Greta."

They Don't Know About Us || l.t. ; h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt