Kapitel 51

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Nabu

Am Ende konnte ich mich noch so dagegen wehren, es war wieder Montag und ich stand vor dem Schultor. In wenigen Minuten würde ich mich mit Sakuya treffen. Das konnte nur schief gehen. Wahrscheinlich sollte ich ihr direkt sagen, dass ich kein Interesse an ihr hatte. Das klang nach einem sehr guten Plan, ich würde ihr einfach geradeheraus sagen was ich dachte.

Gemächlich machte ich mich auf den Weg aufs Dach, immerhin hatte ich noch mehr als genug Zeit. Im Gegensatz zu meinen Schulkameraden war ich immerhin die meiste Zeit ein Frühaufsteher und dementsprechend auch früh an der Schule.

Oben angekommen beschloss ich die Zeit ein wenig zu nutzen indem ich die Aussicht genoss, die ich von hier oben hatte. Man sah, dass der Wald fast die gesamte Stadt umschloss und wenn man wusste wonach man suchte, konnte man von hier aus auch den abgestorbenen Teil des Waldes erkennen.

Man sah nur wie das undurchdringliche Blätterdach plötzlich von braunen toten Ästen unterbrochen wurde, aber es war so weit weg, dass es jemandem, der diesen Teil des Waldes nicht kannte, nicht einmal aufgefallen wäre.

In ein paar Monaten, oder bereits Wochen, würde man von hier aus vielleicht gar nichts mehr sehen, außer einem durchgängigen grünen Blätterdach, auch wenn der Wald wahrscheinlich erst im Frühjahr zu hundert Prozent geheilt sein würde.

Sollte Re'em mich nicht in die Finger kriegen, schoss es mir durch den Kopf, was mich auch bedrückte, immerhin würde, wenn ich von hier verschwand, nicht nur dieser kleine Teil des Waldes tot bleiben, sondern es würde sich auch noch ausbreiten. Das war zwar nicht das was mir Benjiro gesagt hatte, doch ich hatte im Gefühl, dass es sich genau so zutragen würde.

Ich setzte mich dann neben den Ausgang und lehnte mich an die Wand des Aufgangs. Nachdem Benjiro mir letzte Nacht diesen einen Satz gesagt hatte, war ich noch eine ganze Weile wach gewesen und hatte darüber gegrübelt ob wirklich die ganze Welt mein Feind sein musste, oder ob ich als Einhorn einfach niemanden haben durfte der auf meiner Seite stand, abgesehen von anderen Einhörnern.

Die Vorstellung, dass es niemanden gab, stimmte mich missmutig. Am liebsten wollte ich mit gar niemandem mehr reden. Im Prinzip ‚verkleidete' ich mich als Mensch und dieses zweite Leben war wie eine Farce. Eine Täuschung und von allen Personen hatte ich mich selbst am meisten getäuscht.

Es war nicht so, dass ich das Mensch-sein hasste, doch der Einhornteil von mir hatte einfach komplett andere Bedürfnisse, davon abgesehen, dass ich als Einhorn wirklich viel essen musste.

Wäre es vielleicht klüger wenn ich von heute auf morgen verschwand? Sollte ich meine Familie auf gut Glück suchen? Sollte ich vor Re'em flüchten? Sollte ich womöglich auch die Schule aufgeben? Möglich wäre alles, doch ich musste mich entscheiden. In den vergangenen Wochen war ich immer auf der Stelle herumgetreten, das konnte so nicht weitergehen.

Vielleicht sollte ich einfach aufhören Einhorn zu sein und mich voll und ganz auf mein Menschenleben konzentrieren, bis ich eines Tages jemanden fand, der mit mir leben würde und mit dem ich ein paar Kinder hatte, bis ich selber vergessen würde, dass ich je ein Einhorn war und mich an den menschlichen Körper gewöhnt hatte.

Noch bevor meine Augen brannten, spürte ich, wie mir eine Träne aus dem Auge entwischt war und schließlich von meinem Kinn auf meinen Handrücken fiel. Hastig wischte ich mir über die Augen, aus Furcht es könnten noch mehr kommen.

Ich traf mich hier in ein paar Minuten mit Sakuya, verdammt!

Doch der Gedanke ein ganz normales Menschenleben ohne andere Wesen wie mich zu leben, war einfach zu grauenvoll, ich durfte gar nicht einmal ans Aufgeben denken und sollte ich bis zu meinem Lebensende nach meiner Familie suchen.

✒ Ein Horn zum VerliebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt