Teil 2 - Vergangenheit

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"Wir kennen uns!" , platzte es aus YN heraus. "Na ja, ich kenne dich, du mich wahrscheinlich nicht. Du bist doch... Hisoka."

Sie erinnerte sich wieder.

Hisoka. Hisoka Morow. Er muss drei oder vier Jahre älter als ich sein. Damals zu Schulzeiten war er der Neue. Mitten im Schuljahr haben die Oberschüler einen neuen Mitschüler bekommen. Niemand wusste genau, wer er ist oder wo er herkommt. Gerüchten zufolge kam er aus Meteor City, was ein ziemlicher Skandal gewesen wäre. Menschen, die da herkommen, gelten als Abschaum, von der Gesellschaft verstoßene Wesen.

YN erschrak vor sich selbst. Wie konnte sie nur so unbeschwert in einen Plauderton verfallen, wo doch noch gar nicht geklärt war, ob er ihr etwas antun wollte.

"Das stimmt, mein Name ist Hisoka. Und wer bist du?"

"Ich bin YN."

Stille.

"Warum verfolgst du mich? Warst du derjenige, der mich im Park angestarrt hat? Ich habe das genau gemerkt! Lüg mich ja nicht an!“ YN atmete schwer, sie konnte den Blutdruck in ihren Ohren spüren.

Hisokas Mund bewegte sich kaum, doch in seinen Augen konnte sie seine Belustigung erkennen: "Oh, ich helfe doch immer wieder gerne. Und da du meine Hilfe jetzt nicht mehr brauchst, werde ich nun gehen."

Er drehte sich um und war auch in den nächsten drei Sekunden nicht mehr zu sehen. Verwirrt, teilweise über ihre eigene Reaktion auf ihren Retter, teilweise über den Verlauf der letzten halben Stunde, ging sie zu ihrer Wohnung.

Ihre Wohnung war im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses. Hier im Distrikt waren die Häuser nicht annähernd so groß wie im Zentrum von Yorknew City. Bunte Reklametafeln gab es hier nur wenige, es war ein graues Viertel. Hier lebten Menschen, die sich kein schickes Zuhause leisten konnten. Hier lebten Menschen, die mehr als nur einen Job hatten, um über die Runden zu kommen. Hier lebten Menschen, die entweder alleinstehend oder alleinerziehend sind. Hier lebte YN.

YN ging die alten Treppen hinauf, schloss ihre Wohnungstür auf und direkt wieder zu, nachdem sie eingetreten war.

Die schwere und noch heiße Luft in ihrer Wohnung drückte gegen ihren Körper. Sie war plötzlich müde, jetzt da ihr Adrenalinspiegel abebbte und sie sich in der Sicherheit ihrer eigenen Vier Wände wiegte.

Nachdem sie ihre Tasche neben die Tür legte, beschloss sie, sich kalt abzuduschen. Sie öffnete das einzige Fenster komplett, um wenigstens ein wenig Nachtluft hereinzulassen, zog die Gardine auf und begab sich in ihr kleines Badezimmer.

Das Wasser hatte die perfekte Temperatur: Nicht nur der Staub des Tages, sondern auch ihre Gedanken waren wie weggespült. Sie vergaß den anstrengenden Arbeitstag, die brütende Hitze und den Vorfall von vorhin. YN wollte gar nicht aus der Dusche steigen, denn sobald sie das Wasser abdrehte, würde die Schwüle ihre Haut wieder umhüllen. Doch es nützte nichts und sie drehte den Hahn ab, griff nach ihrem Handtuch und begann sich abzutrocknen.

Die Gardinen waren zu einer Seite geweht, als YN ihr Zimmer betrat. Die vereinzelten Tropfen auf ihrer Haut ließen sie erzittern und so ging YN zum Fenster und schloss es. Da fiel ihr etwas auf ihrem Couchtisch auf: eine Spielkarte. Es war eine Jokerkarte.

Joker.

Jetzt dämmerte es ihr. Hisokas Spitzname in der Schule war Joker gewesen.

In Yorknew war es nichts Besonderes, dass die Menschen ein außergewöhnliches Aussehen hatten. Bunte Haare und ausgefallene Kleidung waren keine Seltenheit und so hätte es auch nicht negativ auf Hisoka zurückfallen dürfen, dass auch er anders war. Er wurde Joker genannt, da irgendjemand herausgefunden hatte, dass er als Kind in einem Zirkus aufgewachsen ist.
Sie konnte in ihren Gedanken die Stimmen von damals hören. Joker! Joker! Zeig uns doch einen deiner blöden Kartentricks.

Die Mitschüler verachteten ihn. Ob aufgrund seiner Herkunft oder zumindest aufgrund der Gerüchte, die dazu kursierten, wusste sie nicht mehr. Dass er zudem in besonderer Weise anders war, förderte die allgemeine Abneigung. Jedem wurde gestattet anders sein, nur Hisoka wurde für seine Andersartigkeit verabscheut, fast schon bestraft. Er hatte damals keine Freunde und wann immer die Situation es zuließ, machten sich die Cliquen der coolsten Mitschüler über ihn lustig. Natürlich nur hinter seinem Rücken und in der Gruppe, denn was wenn die Gerüchte doch stimmten und er ein übler Kerl war? Sie erinnerte sich an einige Vorfälle, die mit Hisoka zutun hatte. Die Lehrer versuchten, die Sache unter den Teppich zu kehren, doch jeder wusste, dass man Hisoka besser nicht allein gegenüber trat.

Joker. Hat er, der gefürchtete Hisoka, mir womöglich das Leben gerettet? Er ist mir nicht gefährlich vorgekommen...

Sie konnte sich nicht mehr genau daran erinnern. Aber wie alt war sie denn? 14? 15?
Hisoka soll einmal einen älteren Mitschüler, der sich mit ihm angelegt hatte, schlimm verletzt haben. Es gab an der Schule eine Art Initiationsritus. Alle neuen Schüler, die mitten im Schuljahr dazustoßen, mussten eine Prüfung absolvieren. YN wusste nichts Genaues, aber es gab die absurdesten Geschichten. Jedoch gab es keine Zeugen und das Opfer hatte es nie zu einer Anzeige gebracht.

Die Jokerkarte musste durch das offene Fenster hineingeflogen sein. Das war nicht verwunderlich, denn die Casinos des Bezirkes waren nicht allzu weit entfernt.

Gerade als YN die Karte wegwerfen wollte, erblickte sie etwas Geschriebenes auf der Rückseite.

Gelegenheit macht Diebe ... und eine Telefonnummer.

Was das wohl zu bedeuten hatte? Nicht dass YN jetzt unfreiwillig zu Beweismaterial in einem Casinoüberfall gelangt war. Was wenn irgendeine Bande einen Raub plante und diese Jokerkarte lieferte womöglich wichtige Erkenntnisse.

Ich lege die Karte besser an einen Ort, wo ich sie wiederfinde, um im Falle eines Falles der Polizei helfen zu können.

YN zog sich ihre Schlafsachen an und legte sich ins Bett. In ihrem Kopf fingen plötzlich die Gedanken wieder an zu kreisen.

Was war das für ein Abend?!
So etwas war mir noch nie passiert. Wenn Hisoka nicht da gewesen wäre, hätten die drei Männer mich angefallen?

Bei dem Gedanken durchfuhr sie ein Schauer. Langsam wurden ihre Augen müde und YN fiel in einen traumlosen Schlaf.

Gelegenheit macht LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt