Teil 3 - Fast vergessen

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Der nächste Tag war nicht gerade weniger warm. Ganz im Gegenteil. Die Sonne stand schon früh im Zenit und es war nicht eine einzige Wolke am Himmel zu sehen.
Bald schon würde YN zur Arbeit gehen müssen, sie arbeitete in der Universitätsbibliothek von Yorknew City. Ihre Aufgabe war es Bücher, die zurückgebracht wurden, an ihren vorherbestimmten Platz zu bringen und auch die Bücher, die im Laufe des Tages gelesen und liegen gelassen wurden, räumte sie wieder an die richtige Stelle.

Schnell sprang YN aus dem Bett. Sie nahm ein kleines Frühstück ein, bei den Temperaturen hatte sie weniger Appetit als gewöhnlich, und zog sich ihre Bibliotheksuniform an. Das weiße Shirt und die lange, dunkelgraue Hose waren einfach nicht für die Sommer der Stadt gemacht. Zwar gab es alternativ die Option, als Frau Röcke anzuziehen, aber YN fand sie einfach unpraktisch bei der Arbeit. Ständig stand sie auf Leitern oder musste sich hinhocken, um die Bücher wegzuräumen.

Bei der Arbeit angekommen, schlenderte sie ganz verträumt mit einem riesigen Stapel Bücher in ihrer Hand durch die Regale. Hier fühlte sie sich wohl, hier konnte sie sich in wohltuender Einsamkeit wiegen. Die Bibliothek war ohnehin ein Ort der Stille und so störte es niemanden, dass YN während ihrer Arbeit manchmal kaum mehr als drei Sätze sagte.

Nicht dass sie Menschen hasste, aber oftmals ist es einfacher alleine als in Gesellschaft. Es war tagesformabhängig: Manchmal brauchte sie den Kontakt zu ihren Kollegen und den Studenten, an anderen Tagen wollte sie ungestört ihrer Arbeit nachgehen. Den Büchern musste sie kein aufgesetztes Lächeln präsentieren oder besonders höflich zu ihnen sein, sie musste ihnen nicht erklären, warum sie heute nicht besonders gesprächig war. Schlechte Laune war selten der Grund. Es gab einfach Tage, an denen sie sich verhielt wie sie sich nun einmal verhielt. Völlig neutral. Das war für einige nicht immer nachvollziehbar, aber diejenigen, die sie kannten, akzeptierten dies mittlerweile. Ihrem Chef, ein Professor der alten Sprachen, genügte es, wenn man gewissenhaft arbeitete.

Und so verlief der Tag ereignislos und bald schon würde YN wieder ihre geliebten Bücher verschlingen können.
Schnell wünschte sie Kaito, ihrem neuen Kollegen, einen schönen Abend und verließ die Universitätsbibliothek.

Kaito hat sich für seinen ersten Tag wirklich gut angestellt. Dafür dass er in nur wenigen Stunden so viel erklärt bekommen hat. Nicht schlecht! Das war eine vielversprechende Einarbeitung!
Und zudem scheint er auch ganz nett zu sein, am Anfang wirkte er etwas schüchtern, aber als wir unten im Archiv waren, war er lockerer.

YN grinste, denn Kaito war ein interessanter Typ. Er gehörte nicht zu denjenigen, die sich ihrer Präsenz bewusst waren. Seine zurückhaltende und ein wenig unbeholfen Art machten ihn sympathisch. Anders als andere in seinem Alter war er nicht darauf aus, jedes Mädchen im Umkreis auf sich aufmerksam zu machen und doch zog er YN in seinen Bann.
YN hatte schon immer eine Schwäche für interessante Menschen. Sie brauchte keine selbstverliebten, von allen bewunderten Sunnyboys. Die waren ihr zu oberflächlich. Sie brauchte Menschen, mit denen sie über die Smalltalk-Ebene hinaus reden konnte.

Heute entschloss YN sich gegen ihre Parkbank im Grünen. Der gestrige Vorfall war noch nicht lange genug her, um sorglos alleine unterwegs zu sein.
Sie seufzte. Es blieb ihr also nichts Anderes übrig als in ihre stickige Wohnung zu gehen und dort das Beste aus der Situation zu machen. Auf ihrem Weg nach Hause entschied sie sich, eine längere aber belebtere Straße zu nehmen.

Das ist doch lächerlich! Es ist noch nicht einmal 18:00 Uhr und es ist hell, warum nehme ich nicht meinen üblichen Weg? Lasse ich mich so sehr dadurch beeinflussen?

Und so vergingen eine Woche und eine weitere. YN dachte immer seltener an den Abend, an dem sie beinahe überfallen worden wäre.

Nach einem weiteren gewöhnlichen Arbeitstag traute YN sich wieder, ihre übliche Route nach Hause zu nehmen und wieder einen Halt auf ihrer Bank einzulegen. Auch an diesem Abend wehte eine angenehme Brise und verschaffte ein wenig Abkühlung von der unerträglichen Hitze.

YN setzte sich auf ihre Parkbank und kramte ihr Buch hervor. Irgendwo fing wieder ein Vogel an zu singen, selbst den Tieren war es tagsüber zu warm. Das Leben von Yorknew City verschob sich in letzter Zeit immer deutlicher in den Abend. Wenn es kühler wurde, sah man Menschen auf der Straße, die zusammen unterwegs waren. Und plötzlich wünschte YN sich doch, dass sie heute Abend ausnahmsweise einmal nicht alleine war. Ein wehmütiges Seufzen entglitt ihr.

Vielleicht hätte ich Kaito... Nein. Er ist schon ein süßer Typ, aber er... Ja, er sieht ganz gut aus und er ist wirklich nett. Sollte ich vielleicht deutlicher in die Offensive gehen? Ich kann gut mit ihm unterhalten und er scheint auch Bücher zu lieben. Es muss ja nicht sofort das große Date des Jahrhunderts werden, aber wir könnten eventuell zusammen in ein Café gehen und...

YN wurde aus ihren Gedanken gerissen.

"Guten Abend."

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