Unter Strom

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Sicht des Erzählers

Ohne weiter darüber nachzudenken, oder die etwaigen Konsequenzen in Betracht zu ziehen, entriss sie Jake ihre Hand, machte auf der Stelle kehrt und rannte. Sie rannte so schnell, wie ihre Beine und vorallem ihr verletztes Bein es zuließen. Sie hatte verdrängt, dass ihre Schusswunde sie um einiges langsamer machen würde und auch die Torturen der letzten Tage zehrten an ihren Kräften, doch sie gab nicht auf. Jake war perplex, konnte im ersten Moment nicht reagieren, spürte nur, wie sie sich ruckartig aus seinem Griff löste. Verwirrt drehte er sich um und sah ihr nach, bevor er selbst die Initiative ergriff und ihr folgte. Die Wut übernahm die Kontrolle in seinem Denken und ließ ihn immer schneller werden, doch er hatte Zeit verloren und sie schon fast aus den Augen. Er fluchte laut und schrie ihr hinterher, "Wenn ich dich kriege Lillian, dann gnade dir Gott!". Wieso hatte er diese Situation nicht bedacht? War er wirklich so benebelt von dem Gedanken gewesen, dass sie ihm endlich etwas williger geworden war? Sie konnte ihn, trotz des Herzschlages in ihren Ohren, deutlich hören. Die Panik vor dem, was passieren könnte verpasste ihr einen Adrenalinschub und die Schmerzen ihres Körpers waren kaum noch fühlbar. Nur kurz sah sie sich nach ihm um, erkannte ihn kaum in der Dunkelheit und wusste, dass er sie genauso wenig erkennen konnte. Dieses Wissen nutzte sie um sich bei nächster Gelegenheit an einen Baum zu pressen, in der Hoffnung, dass Jake es nicht gesehen hatte und an ihr vorbeilaufen würde. Es war zu ihrem Vorteil, dass das Shirt, welches sie trug, recht dunkel war, ebenso wie ihre Leggins. Sie hielt die Luft an, kniff die Augen fest zusammen, das Herz schlug ihr bis zum Hals, so als ob es ihrem Brustkorb entspringen wollte. Sie hörte die immer lauter werdenden Schritte und wie sie an ihrem notdürftigen Versteck vorbei liefen und wieder leiser wurden. Hatte sie ihn wirklich täuschen können? Sollte dies wirklich ein Erfolg werden? Erst als sie seine Schritte kaum noch hören konnte, erlaubte sie es sich, erleichtert auszuatmen. Sie entfernte sich etwas von dem Baum der ihr Schutz gespendet hatte und sah ihm nach, seine Gestalt verschwand als bald in der tiefen Schwärze des Waldes und der Nacht. Sie beschloss, in langsamerem Tempo weiter zu gehen, aber diesmal im Schatten der Bäume und ganz leise. Sie wollte keinesfalls, dass er sie hörte, früher oder später, das wusste sie, würde er sie finden, aber die Zeit, die sie jetzt hatte, würde sie nutzen. Das Halsband würde sie nicht los werden, unzählige Male hatte sie es schon versucht, doch es ließ sich nur mit der Fernbedienung öffnen und diese war stets im Besitzt der Jungs. Lillians Adrenalinspiegel sank ab, als sie sich langsam in Sicherheit wog und erst dann spürte sie, wie erschöpft sie nun war. Sie machte halt und lehnte sich für eine kleine Weile an einen nahegelegenen Baum, bis sie erneut Stimmen vernahm, die Suche nach ihr hatte also begonnen. Jake hatte sofort die Jungs alarmiert, nachdem klar war, dass er Lillian verloren hatte. Er hatte Dexter angewiesen das Halsband erneut einzuschalten, doch es würde mindestens eine Stunde dauern, ehe es wieder voll funktionsfähig war. Das wäre kein Problem gewesen, wenn Lillian sich nicht von ihm losgerissen hätte und ihm nicht entkommen wäre. Er war sauer, ja fast schon rasend vor Wut, dass er diesen Fall nicht einkalkuliert hatte. Er traf sich mit Dex, Dim und Alistair am Tor, klärte sie noch einmal auf und bezog zur Suche auch noch einige seiner Männer mit ein. Dexter hatte tatsächlich eine erfreuliche Nachricht für ihn, zwar funktionierte die Ortungsfunktion noch nicht, dafür aber die elektronischen Schockwellen. Das hieß, dass Lillian noch bevor er sie fand leiden würde. Er konnte sich ein bitteres Grinsen nicht verkneifen. Sie teilten sich in Zweierteams auf und begannen, den umliegenden Wald zu durchforsten. Es könnte Stunden dauern, bis sie sie finden würden, doch dies war genug Zeit um Lillian ein paar kräftige Stromschläge über das Halsband verpassen zu lassen. Jake ging mit Dexter gemeinsam, sie wechselten kein Wort, lauschten angespannt auf jedes Geräusch. Lillian hatte sich zwischenzeitlich weiter durch den Wald geschlagen, doch sie war noch nie die Beste, wenn es um Orientierung ging. Sie versuchte sich zu konzentrieren, doch als der erste Stromschlag sie unerwartet traf, war es mit der Konzentration vorbei und sie biss sich auf die Lippe um nicht zu schreien. Sie verfluchte Jake innerlich immer wieder, dass er ihr dieses Ding angelegt hatte. Sie hatte gehofft, dass er vergessen würde, es wieder einschalten zu lassen, doch insgeheim wusste sie, dass er mehr Intelligenz besaß, als man es erahnen mochte. Immer wieder spürte sie, wie der Strom durch ihren Körper floss und sie zucken ließ, der Schmerz nahm überhand und sie hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Sie wusste, dass sie zurück zur Fabrik musste, wenn sie wollte, dass die Schmerzen aufhörten, aber sie wollte auf keinen Fall Jake vorab in die Arme laufen, denn sie wusste, dass er sie absichtlich länger vom Gelände fern halten würde. Sie machte kehrt und schaffte es, trotz Orientierungslosigkeit und lähmenden Schmerzen zurück zur Fabrik. Am liebsten hätte sie das Gelände gar nicht betreten, doch sie wollte, dass die Stromschläge aufhörten. Mit wackeligen Beinen schritt sie durch das Tor und von jetzt auf gleich hörten die Stromschläge auf. Sie ging kraftlos auf die Knie und wartete darauf, dass Jakes Wachen sie ergriffen, sie musste gar nicht lange warten, bis zwei bewaffnete Männer ihr Sichtfeld betraten. Sie blieb regungslos sitzen, eine Schusswunde war mehr als genug. Sie spürte, wie es langsam begann zu regnen und konnte sich ein verbittertes Lächeln nicht verkneifen. Wie passend dieses Szenario doch war, sie war zurück in dieser Hölle, die sie nie wirklich verlassen hatte und selbst der Himmel weinte um sie. Welch eine Ironie. Ihr Blick richtete sich gen Himmel und sie schloss die Augen, ihre Tränen mischten sich mit dem immer stärker werdenden Regen. Sie hörte, wie eine der Wachen über Funk mit Jake kommunizierte aber sie verstand nicht, was er sagte, alles was sie hörte, war die Wut in Jakes Stimme.

At the End of FallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt