Prolog

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Paris im Ostermond, Westfränkisches Reich

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„Sie sind hier! Votre Majesté, sie sind hier!", schrie der Bote aus heiserer Kehle, als er den langen Gang entlang hastete in die Richtung des königlichen Speisesaals.

Die braune Fasanenfeder an seinem Hut wippte im Takt seiner Schritte und sein roter, zerknitterter Umhang flatterte hinter ihm her. Die Wachen am Eingang der Halle versperrten ihm mit ihren Lanzen sofort den Weg. Mit düsterer Miene musterten sie den Eindringling.

„Ich muss zum König! Es ist sehr dringlich!", zischte der Bote ausser Atem.

„Unsere Majestät empfängt heute niemanden, auch keine Laufburschen", sagte die Garde mit braunem Schnurrbart und silbernem Helm.

„Sie müssen mich durchlassen. Diese Angelegenheit wird den König interessieren! Ich scherze nicht. Ich habe eine sehr eilige Botschaft aus dem Wachturm in Rouen, die dringlichst an den König gebracht werden muss. Er muss augenblicklich darüber in Kenntnis gesetzt werden!"

Schweissperlen glitzerten auf der Stirn des aufgebrachten Boten. Die Wachen schauten sich irritiert an. Die zitternde Stimmlange des Mannes vor ihnen verriet, dass es ihm bitterernst war. Der grössere der beiden Wächter flüsterte dem schnurrbärtigen etwas ins Ohr und verschwand hinter der Eichentür. Der dumpfe Schlag der zufallenden Tür hallte durch den Gang des Palastes.

„So beeilen Sie sich doch, wir können keine Zeit verlieren! Ganz Paris ist in Gefahr!", donnerte der dunkelhaarige Bote und lief vor der stehengebliebenen Garde auf und ab.

Der Wächter mit dem Schnurrbart hob neugierig die Augenbrauen und lehnte sich etwas vor, um den Boten anzusprechen.

„Wenn ich fragen darf. Was beinhaltet denn diese Botschaft, die Sie—"

„Die Nachricht ist ausschliesslich für den König gedacht, nicht für irgendwen, Sie Gesindel!", unterbrach der Bote die Leibgarde.

Für einen kurzen Moment war sein Blick erstarrt ob der Unfreundlichkeit dieses Mannes, aber dann besann sich der Wächter eines Besseren. Mit zuckendem Schnauzer straffte er seinen Rücken, stellte seine Lanze wieder gerade und starrte stumm in den endlosen Gang vor sich, so wie er es schon den ganzen Tag getan hatte. Nun musste er nur noch bis zum Einbruch der Nacht hier stehen und diese langweilige Tür bewachen.

Ein Knarzen hinter ihm verriet, dass jemand die schwere Tür langsam wieder öffnete. Die zweite Garde lugte durch den Spalt.

„Der König macht eine Ausnahme. Treten Sie ein."

Der Bote rückte seinen schwarzen Hut mit der Feder zurecht und strich sich die Kleidung glatt. Mit flatterndem Atem und pochendem Herzen schritt er in den Speisesaal.

Vor ihm eröffnete sich eine fürstliche Halle mit übergrossen Wandteppichen, welche an die ruhmreichen Momente von vergangenen Schlachten erinnern wollten. Eine Tafel aus dunklem Kirschholz erstreckte sich durch den Saal. Graues, fahles Licht drückte sich durch das dicke Glas der hohen Bogenfenster. Das wenige Licht wurde jedoch von den weinroten Gardinen und den Teppichen an den Wänden verschluckt.

An einem Ende des langen Tisches sass Karl der Kahle - König von Westfranken, jüngster Sohn des verstorbenen Kaisers Ludwig des Frommen und Enkel von Karl dem Grossen - drapiert in ein braunes Tuch mit gold-verziertem Saum und Königskrone auf dem dunklen Schopf. Am anderen Ende sass im himmelblauen Kleid mit weiten Ärmeln die Gattin des Königs: Irmentrud von Orléans. Ihre langen braunen Haare fielen ihr bis zur Mitte ihres stockgeraden Rückens. Sie verzog ihr Gesicht zu einer Schnute. Die Königin war nicht so sehr über den unerwarteten Besuch erfreut. Die beiden Adligen speisten gerade ihr Mittagsmahl.

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