Île Saint-Denis, Westfränkisches Reich
~
Luca trappte über die Ruderbänke, einen vollen, tropfenden Krug Bier in der Hand. Die Wikinger hatten einem fränkischen Bauer zwei Bierfässer für den Eigenverzehr entwendet. Lucas ehrenvolle Aufgabe bestand darin, den Männern ihre Becher mit dem flüssigen, dunklen Gold zu füllen. Die alte Leier für ihn, denn alles, was er bisher als Sklave hatte tun müssen, war den Alkoholpegel der Männer in die Höhe zu jagen.
Es dunkelte schon und Luca hatte Mühe, mit seinen Füssen die Balken der Ruderbänke zu erahnen. Sie befanden sich auf den Schiffen, die mitten auf der Seine ankerten, an derselben Stelle, an welcher sie auf eine fränkische Armee gestossen waren. Ein karolingisches Heer, welches von Ragnars Männern brutal niedergemetzelt worden war.
Luca hatte alles mit Entsetzen von seinem sicheren Platz aus beobachten müssen. Wie seine Landsleute abermals von diesen Barbaren niedergeschmettert worden waren. Er hatte sich im Rumpf von Ragnars Prunkschiff hinter einer Kiste versteckt. Beim Anblick der fränkischen Kavallerie mit ihren langen Lanzen auf der einen Seite und den furchtlosen, mit Äxten bewaffneten Berserkern auf der anderen Seite war er heilfroh gewesen, dass er nur ein einfacher Sklave war und nicht im Gemetzel hatte mitkämpfen müssen. Als einstiger Weber war er in der Schlacht überhaupt nicht zu gebrauchen - zu seinem eigenen Glück.
Seine Arme ächzten vom Gewicht des vollen Bierkruges. Er blieb neben einer Männergruppe stehen, die sich an die Reling lehnte und streckte ihnen fragend den Krug hin. Sie nickten und hielten ihm ihre Becher entgegen, die er sogleich bis oben mit dem klebrigen Getränk füllte.
Dann balancierte er weiter über die Bänke zur nächsten Gruppe, die gerade einem etwas älter anmutenden Krieger zuhörten. Der Bart des Erzählers graute bereits, was für Luca wohl der Grund sein musste, warum die jungen Männer ihm zuhörten. Er sah weise aus und war, wie es schien, in der Schilderung einer Geschichte vertieft. Seine Stimme klang erdig durch die kühle Abendluft. Aus Neugierde, was es denn sein könnte, was dieser Mann erzählte, horchte Luca unauffällig mit.
Der Krieger hielt die Arme halb ausgestreckt vor seinem Körper und bewegte seine Hände dramatisch, um die Geschehnisse seiner Geschichte zu betonen.
„Während drei eisiger Jahre erstarrt die Welt im tiefsten Winter. Die grässliche Kälte will nicht vergehen. Schnee, klirrender Frost und eisige Stürme plagen die Menschen. Der Fimbulwinter ist gekommen! Es ist der Anfang vom Ende. Es ist der Beginn des Untergangs der Götter. Das Ende der Welt. Ragnarök", erzählte er und rieb sich dabei die Hände, als ob er die Kälte selber spüre und sich die Finger wärmen wolle.
„Dann erheben sich die Wölfe Skalli und Hati und jagen der Sonne und dem Mond nach. Skalli holt die Sonne ein und zerfleischt sie zwischen seinen Zähnen. Dadurch wird alles in Dunkelheit getaucht. Kein Licht mehr erhellt die Erde. Es ist so dunkel, dass man nicht einmal mehr seine eigene Nase auf dem Gesicht sehen kann!"
Die Zuhörer blickten ihn mit interessierten Mienen an. Einer der Männer führte seinen Becher an die Lippen, hielt aber vor Spannung in der Bewegung inne. Der Erzähler streckte seine Hände hoch in die Luft und begann sie langsam zu senken. Dabei fuhr er fort:
„Dann fallen die Sterne vom Himmel auf die Erde herab. Der Boden beginnt zu Beben, so dass sich die Bäume entwurzeln und die Berge einstürzen. Fenris, der mächtige Wolf, kann sich durch das Erdbeben von seiner Kette befreien. Er entkommt seinem ewigen Gefängnis. Die Midgardschlange spürt die Erschütterungen ebenfalls und kriecht an Land und überflutet die Welt mit einer gigantischen Welle. Fenris spuckt Feuer und die Schlange ihr Gift, so dass sich die Luft entzündet!"
DU LIEST GERADE
Belagerung
Ficción históricaBand II Auf sich gestellt und tief verletzt begibt sich Aveline auf die Rückreise in ihre alte Heimat. Mit einem einzigen Ziel vor Augen: Zurück zu ihren Wurzeln. Ein beschwerlicher und gefährlicher Weg steht ihr bevor, auf welchem sie so manch kuri...