45 - Brachmond

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Bei Paris, Westfränkisches Reich 

~

„Ragnar?"

„Nicht jetzt", winkte der Jarl ab und schüttelte frustriert seinen Kopf ab dem elenden Anblick, welcher sich ihm bot. „Das kann doch nicht wahr sein!"

Er marschierte zum nächsten Zelt und schlug die Plane auf. Beim Gestank, der ihm entgegenwehte rümpfte er vor Ekel geschüttelt die Nase. Das Lazarett war am Rande der Zeltstadt aufgebaut worden, damit die von der Seuche befallenen Männer von den Gesunden getrennt werden konnten. Ganze dreissig Zelte hatte man dafür geopfert, um Platz für die Kranken und Sterbenden zu machen.

Ragnar hatte sich nach drei Tagen endlich selbst überwunden und war die Krankenstätte besuchen gegangen, um den Kriegern Mut zuzusprechen. Was er sah gefiel ihm aber ganz und gar nicht. Die mutigen, starken Krieger Sigurdsons lagen kränklich in ihrem eigenen Saft auf den Pritschen und wurden dahingerafft wie zarte Pflänzchen im Frost.

„Ich habe wichtige Neuigkeiten", murmelte Thorsten, der hinter dem Jarl herging.

„Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?! Nicht jetzt!", knurrte Ragnar und schritt zum nächsten Zelt.

Er atmete laut ein, hielt dann die Luft an und trat ein. Thorsten folgte ihm ins Dunkle. Der Hauptmann konnte bei dem Gestank ein Husten nicht unterdrücken und hielt sich die Hand vor den Mund. Vor ihnen lagen vier Männer schlaff auf ihren Pritschen. Zwei davon waren dem Tod näher als je zuvor. Die anderen beiden schienen besserer Laune und blickten ihren Jarl mit glasigen Augen an.

Ragnar tauschte ein paar höfliche Worte mit seinen zum Tode verdammten Kriegern aus und sprach ihnen Mut zu. Der Klang seiner Stimme liess aber deutlich verlauten, dass er nicht an ihre Genesung glaubte.

Thorsten fühlte sich sichtlich unwohl in dem engen Raum, denn er befürchtete, selbst von der Seuche befallen zu werden. Die schwüle Hitze, die sich seit ein paar Tagen über den Fluss gelegt hatte, half nicht sonderlich, sondern machte den bestialischen Gestank nur noch schlimmer.

„Es ist Kjetill", meinte Thorsten dann. „Er ist zurückgekehrt."

Ragnar wandte sich ihm zu und packte seine kräftigen Schultern.

„Kjetill? Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?!"

Thorsten kratzte sich am Hinterkopf und suchte nach einer Antwort, da wurde er bereits aus dem Zelt geschoben. Er wusste nicht, wie er es Ragnar sagen sollte, dass Kjetill nicht ganz mit dem zurückgekehrt war, was er eigentlich hätte sollen. Der Jarl war aber schon seit Tagen in übelster Laune und Thorsten wollte nicht noch mehr zur Steigerung seines Zorns beitragen, also schwieg er.

„Wo ist der Kerl?", fragte Ragnar.

„Auf deinem Vorplatz."

Der Jarl nickte zufrieden und hetzte in die Richtung seines Zeltes. Die zwei Männer liefen durch das Lager und erreichten den kleinen Vorplatz. Kjetill sass bereits auf einem Höcker unter der grossen Stoffplane und wartete auf ihre Ankunft.

„Kjetill! Bringst du mir die Köpfe dieser Bastarde?!", rief Ragnar von Weitem, als er den Hünen unter der Plane erblickte.

Kjetill stand auf und zupfte etwas nervös an seiner Hose. Er begrüsste den Jarl mit einem kräftigen Händedruck und wartete, bis er sich auf einen Hocker niedergelassen hatte. Dann schüttelte er vorsichtig den Kopf.

„Nein, Ragnar. Wir waren kurz davor, sie zu finden, aber —"

„Willst du mir etwa sagen, ihr habt sie noch immer nicht gefunden?! Wie lange wart ihr unterwegs? Wochen?!", fauchte Ragnar schon.

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