3 - Lenzmond

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Auf dem Limfjord, Nordjütland

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Das Wasser des Limfjords war trüb und schmutzig. Aveline schloss die Augen und spürte die schwankenden Bewegungen des Fährbootes, welche sie beinahe in einen Dämmerzustand wiegten. Wie sehr sie es vermisst hatte auf einem Schiff zu sein. Der Geschmack von salziger Luft auf der Zunge, ein Wind, der einem die Gedanken aus dem Kopf bläst und eine freundlich gestimmte See. Erinnerungen an das Fischerboot ihres Vaters spülten herein.

Sie erinnerte sich an den einen Tag, an welchem er sie und Nouel mitgenommen hatte, um auf dem Ärmelkanal nach Dorschen zu fischen. Der Wind hatte unerträglich an Haut und Haaren gezerrt und ihr kleiner Bruder war ins Innere des Fischerbootes gekrochen, auf der Suche nach einem windstillen Plätzchen. Aveline hatte ihren Bruder in die Arme genommen und ihn mit ihrem Körper gewärmt. Das Bild seiner kleinen Hände, wie sie sich zittrig in ihre Kleidung krallten, war ihr geblieben. Und das breite Lachen ihres Vaters, der selbst in so rauer See einfach nur glücklich war.

„Ich will dir heute zweierlei Geschichten erzählen", riss sie der alte Fährmann aus ihren Erinnerungen.

Sie blickte ihn müde an. Durch den Schlafmangel war sie eigentlich nicht in der Stimmung, irgendwelchen Geschichten zuzuhören. Eigentlich wollte sie nur eines - schlafen.

„Ich habe wohl keine Wahl, nicht wahr?", meinte sie.

„Du hast eingewilligt. Jetzt kannst du nicht zurück. Wenn du möchtest, kannst du ins Wasser springen."

Der Alte grinste schelmisch. Aveline schüttelte den Kopf.

„Lieber nicht."

Lass den Mann reden', dachte sie sich. Ihr blieb schliesslich nichts anderes übrig, als sich ihrer Situation zu ergeben und dem alten Mann zuzuhören. Sie stütze ihr Kinn auf ihre Arme. Die Müdigkeit schwebte wie ein grauer Nebel in ihrem Kopf und machte ihre Lider so schwer wie Steine. Sie wollte die Rast auf dem Schiffchen nutzen, um zur Ruhe zu kommen.

Die letzten Tage voller Furcht gefunden zu werden zollten ihren Tribut. Ein Gefühl von Sicherheit schlich sich an und formte ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen. Ihre möglichen Verfolger würden sie jetzt sicherlich nicht mehr finden. Sie hatte sie überlistet.

„Gut. Also da ist Hödur, der Bruder von Balder. Er ist der zweite Sohn Odins. Er ist blind, aber er ist ein wahrhaftiger Kämpfer."

Aveline verdrehte die Augen. Bei den Wikingern waren alle Männer, die sich als starke Krieger bewiesen, verehrte Persönlichkeiten. Als ob das alles war, was zählte. Sie seufzte laut, während der Fährmann ohne ihren Verdruss gehört zu haben, fortfuhr:

„Eines Tages träumt sein Bruder, der schöne Balder, von seinem eigenen Tod. Weil er die Lichtgestalt auf der Welt ist, kann er nicht sterben, sonst verendet die ganze Welt mit ihm. Also geht seine Mutter - Frigg - und spricht mit jedem Tier, jeder Pflanze, jedem Metall und jedem Gegenstand auf der Erde und zwingt ihnen einen Eid auf, ihren Sohn niemals zu verletzen oder zu töten. Alle schwören es ihr, nur die Mistel hat die gute Frigg leider vergessen, weil sie einfach so unbedeutend aussieht. Nachdem die Götter von diesem Eid hören, wollen sie es natürlich unbedingt ausprobieren und machen sich einen Spass daraus, den armen Balder mit Gegenständen, Tieren und Pflanzen zu bewerfen. Nichts, aber auch gar nichts kann ihn verletzen, denn alle haben ihren Eid geschworen und halten ihn. Loki, dem Fiesling, ist aber zu Ohren gekommen, dass die Mistel den Eid nicht geschworen hat. Er ist neidisch auf Balder und seine Unsterblichkeit. So bringt er den blinden, nichts ahnenden Hödur dazu, einen Mistelzweig auf seinen Bruder zu werfen, welcher ihn sogleich — "

BelagerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt