Aggersborg, Nordjütland
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Aveline stand am Ufer des Limfjords und warf einen besorgten Blick über die Wasseroberfläche. Ein kräftiger Wind zog an ihren Kleidern und spielte mit ihren kupferbraunen Strähnen. Sie sass ohne Sattel auf Haski, welcher die Rast dafür nutzte, Grashalme, die zwischen dem Sand hervorlugten, mit seinen Lippen zu schnappen.
„Endlich", knurrte sie.
Ihr war kalt, selbst das schwarze Gewand um ihre Schultern vermochte es nicht, ihr Wärme zu schenken. Seit ihrer Flucht aus Vestervig war Aveline mit dem Hengst entlang des Fjordufers geritten, auf der verzweifelten Suche nach einer Passage. Schlaflose Nächte lagen hinter ihr, in denen sie sich im Wald verschanzt hatte, um sich vor den Wikingern zu verstecken. Sie war absichtlich gen Norden geritten, um ihre Verfolger in die Irre zu führen. Niemand würde damit rechnen, dass sie in die falsche Richtung geritten war.
Eigentlich wollte sie in den Süden. Zurück in ihre Heimat, so schnell und schmerzlos, wie es nur menschenmöglich war. Der schnellste Weg führte über Oddesund, ein Fischerstädtchen, welches nur ein Tagesritt südlich von Vestervig entfernt gewesen wäre. Aber sie wusste, dass man sie dort zuerst suchen würde und sie wollte diesen Normannen nicht wieder direkt in die Arme laufen. Nicht nach all dem, was vorgefallen war. Darum suchte sie nach einer anderen Passage weiter nördlich, dort, wo man ihren Aufenthalt niemals erwarten würde.
Nach zwei Tagen der hoffnungslosen Suche hatte sie nun endlich den Ort gefunden, von welchem ihr ein Mann am Strassenrand erzählt hatte: Aggersborg. Dort solle ein Fährmann leben, welcher für einen stolzen Preis Passagiere mitsamt ihrer Ladung über den Limfjord befördern könne.
Aveline hoffte, dass der Geldbeutel, der an ihrer Hüfte hing, genug Münzen beinhaltete, um sich selbst und den Hengst über die Wellen dieses Fjordes zu transportieren. Es war ihr hart verdientes Geld, das schwer in dem Beutel lag. Ihr monetärer Verdienst dafür, dass sie den Normannen in Vestervig mit ihrer Heilkraft die Gesundheit gestärkt hatte. Sie war kurz davor gewesen, dort als Heilerin ein Geschäft aufzubauen, bevor alles zerbrach. Bevor das ganze Unheil wie eine gigantische Sintflut über sie hereingebrochen war.
Entschlossen zwickte sie Haski in die Flanken und ritt ins Dörfchen, welches sich an das Ufer schmiegte. Sie war einmal mehr im Morgengrauen los geritten. Zu einer Zeit, in der die meisten Menschen noch im Tiefschlaf lagen. Sie wusste nicht, ob man hier überhaupt nach ihr Ausschau hielt, aber sie wollte nicht das Risiko eingehen, gesehen zu werden. Wenn sie gefunden werden würde, wäre das mit Sicherheit ihr Todesurteil. Ihr graute es vor dem Gedanken, was diese Heiden mit jemandem tun würden, der des Mordes angeklagt war.
Sie wollte lieber vorsichtig bleiben und dafür sorgen, von so wenig Menschen wie möglich gesichtet zu werden. Bisher war sie nebst dem alten Mann am Strassenrand, der ihr die Richtung gezeigt hatte, keiner weiteren Menschenseele begegnet. In Aggersborg jedoch würde sie ihr Gesicht dem Fährmann zeigen müssen.
Lautlos sprang sie vom Hengst und führte ihn mit ihrer Hand an seinem Hals durch das verschlafene Dorf. Ihre Kapuze zog sie sich weit übers Gesicht, nur falls irgendjemand aus den kleinen Holzhütten spähen würde. Sie wirkte gespenstisch, wie sie barfuss mit ihrem dunklen Umhang und dem schwarzen Hengst durch die Gasse hinkte. Sollten diejenigen, die sie sahen, nur denken, dass sie unheimlich sei - so würde man sie in Ruhe lassen.
Sprechen wollte sie mit diesen Menschen sowieso nicht mehr. Auch nicht in dieser heidnischen Sprache, die sie nur gelernt hatte, weil man ihr die Freiheit geraubt hatte. Nordisch - eine Sprache die so klang, als wenn man eine heisse Rübe im Mund stecken hatte und gleichzeitig versuchte, Worte zu formen.
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Belagerung
Historical FictionBand II Auf sich gestellt und tief verletzt begibt sich Aveline auf die Rückreise in ihre alte Heimat. Mit einem einzigen Ziel vor Augen: Zurück zu ihren Wurzeln. Ein beschwerlicher und gefährlicher Weg steht ihr bevor, auf welchem sie so manch kuri...