33 - Wonnemond

2.3K 203 516
                                    

Bei Étretat, Westfränkisches Reich

~

Als sich ihre Augen fanden, stiess goldenes Feuer auf Eisblau und entfachte einen Sturm zwischen ihren Seelen. Die Zeit hörte auf zu verstreichen, die Welt stand still. Ihr Atem ging im schnellen Takt, ihre Herzen klopften im selben Rhythmus hart gegen ihre Brustkörbe, so als drückten sie gegen die Rippen und als flehten sie sie an, näher zueinander zu rücken. Sie hielten die Kleidung des anderen fest in ihren Fäusten umschlossen, beide eigentlich bereit dazu, den anderen zu beseitigen, aber sie taten es nicht, denn sie hatten sich vergessen. Sie hatten sich in der Unendlichkeit dieses Augenblickes vergessen.

Mit einem Schlag war der Moment verfolgen und Rurik konnte wieder klar denken. Er erschrak dermassen, dass er den festen Griff um ihren Hals sofort lockerte. Auch sie liess seinen Kragen los und blinzelte ihn erschrocken an. Er öffnete seinen Mund, als wolle er etwas sagen, aber er brachte kein Wort über seine Lippen.

Rurik war sprachlos. Sein Körper erstarrt, sein Geist pausiert. Alles, was er tun konnte, war die Vollkommenheit ihres Gesichtes mit seinen Augen aufzunehmen. Sie war es wirklich! Seine Aveline stand vor ihm. Beinahe vergass er zu atmen, so sehr hielt ihn ihr Dasein im Bann. Wie sehr hatte er sich gewünscht, dieses Gesicht wieder zu sehen!

Da kam plötzlich Bewegung in ihren Körper und ihre Gesichtszüge entspannten sich. Sie war die Erste, die sich aus der Starre lösen konnte. Rurik gelang es noch immer nicht. Die Fassungslosigkeit paralysierte jede Faser seines Körpers. Er war ihr vollkommen ausgeliefert.

Oh, mon Dieu! Pas encore", seufzte sie und verdrehte die Augen.

Rurik blinzelte verwirrt, denn er hatte kein Wort davon verstanden. Sie sprach Fränkisch.

Sors de là, putain fantôme!", zischte sie und machte eine Handbewegung, die andeutete, dass er sich doch verziehen solle.

Er hob überrascht die Augenbrauen. So langsam lockerte sich seine Zunge und die Starrheit verschwand aus seinen Muskeln. Er konnte sich wieder bewegen. Sie standen sich sehr nahe. So nahe, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte, sie anzufassen. Mit einer langsamen Bewegung streckte er seine Hand aus, um ihr Gesicht mit seinen Fingerspitzen zu berühren.

„Aveline?", sagte er mit belegter Stimme.

Er räusperte sich, um klarer sprechen zu können. Seine Fingerkuppen berührten ihre Wangen, was sie leicht erschaudern liess. Sie blieb jedoch stehen und wich nicht zurück. Diese winzige Berührung jagte Rurik heisse Schauer durch den Arm bis ins Herz. Wie sehr hatte er sich danach gesehnt, ihre samtene Haut wieder einmal berühren zu können. Er traute sich kaum zu blinzeln, denn er befürchtete, dass sie beim nächsten Wimpernschlag verschwunden sein könnte. Er glaubte es noch immer nicht, dass sie direkt vor ihm stand und dass er mit seiner Hand über ihr Gesicht fuhr.

Sie blickten sich an und schwiegen, so als wussten sie beide nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen sollten. Aveline musterte ihn gespannt und analysierte jeden seiner Gesichtszüge, jede seiner Regungen. Ein neugieriger Schimmer lag in ihren Augen.

Da raschelte das Laub und Äste knackten. Ruriks mühsame Begleitung zwängte sich von der Seite an die Feuerstelle. Der unüberhörbare Trampel. Der Sklave.

„Ah, da bist du ja!", rief Luca auf Nordisch und kam aus dem Dickicht auf sie zu.

Aveline löste ihren Blick von Rurik und blinzelte verwirrt zu Luca.

Tu peux le voir?", fragte sie ihn auf Fränkisch und zeigte mit dem Finger auf Rurik.

Rurik legte den Kopf schief, denn er verstand wieder kein Wort. Was fragte sie ihn da und warum sprach sie noch immer auf Fränkisch? Sie wirkte mit jedem Blick, den sie Rurik und Luca zuwarf, verwirrter.

BelagerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt