Vestervig, Nordjütland
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Eine frische Brise wehte vom Meer über die Landschaft und liess die Menschen in Vestervig schlottern. Im Norden konnte das Wetter im Frühjahr trügerisch sein. Es war die Jahreszeit, in der man sich bei einer Unachtsamkeit schnell eine Erkältung einfing.
Jarl Ragnar Sigurdson stand mit einer Delegation seiner Sippenältesten, dem jungen Rollo und dessen Vater Jarl Björn Graubart aus Skagen draussen in der kühlen Luft. Die Männer warteten vor dem Haus des Pferdemeisters, denn sie wollten mit ihm um den Brautpreis seiner Tochter feilschen. Ragnar hatte dem Verbündeten Björn Graubart eine Vermählung zwischen dessen Sohn und einer Frau seiner eigenen Sippe versprochen. Im Tausch dafür hatte Björn geschworen, gemeinsam mit zwei anderen grossen dänischen Jarlen, Ragnar zum König von Jütland zu erheben und ihn in seinen grössenwahnsinnigen Eroberungsvorhaben zu unterstützen. Der junge Bursche des Skageners hatte seine Gemahlin selber auswählen dürfen. Seine Entscheidung war auf die Tochter des Pferdemeisters gefallen - Torvi.
Wie es zur Tradition gehörte, sollten jetzt die Männer beider Sippen über den Preis der Braut verhandeln. Hartnäckig sollte einerseits der Brautpreis - welcher an den Vater der Braut bezahlt wurde - und die Mitgift - welche der Vater der Braut dem Bräutigam übergab - ausgehandelt werden.
Sie standen frierend vor dem Haus, denn der Vater von Torvi liess sie warten - mit hoher Wahrscheinlichkeit absichtlich. Rollo stampfte nervös auf und ab. Seine haselnussbraunen kurzen Haare wehten in der Brise. Sein jungenhaftes Gesicht wirkte besorgt, denn er befürchtete, dass dieser Versuch - der eigentlich schon sein zweiter war - wieder schief gehen könnte.
Er trug eine dunkelblaue Tunika mit weiss bestickten Ärmeln. Der lederne Hüftgurt, an welchem sein Schwert hing, liess sein Hemd in Falten über seine Oberschenkel fallen. Eine dunkelbraune Hose war darunter zu erkennen, die in seine Lederstiefel gestopft worden war. Er hoffte, dass er mit seiner edlen Kleidung Eindruck beim Vater der gewünschten Braut schinden könne.
Erst hatte er eigentlich eine andere Frau wählen wollen, aber es hatte sich herausgestellt, dass sie verschwunden war. Die schöne Heilerin der Stadt - Aveline - hatte es ihm wirklich sehr angetan, aber als er wenige Tage zuvor an die Tür ihrer Wohnstube geklopft hatte, war er nur von einem düster reinblickenden Bauer verscheucht worden. Die Heilerin habe die Stadt verlassen, hatte dieser Mann ihm gesagt. Enttäuscht war Rollo wieder gegangen.
Torvi, die Tochter des Pferdemeisters, war seine zweite Wahl, aber sie war fast so schön, wie seine erste. Ihre braunen Haare reichten ihr bis zu den Schultern und umrahmten ihr liebliches Gesicht. Ihre dunklen Augen glichen den eines schüchternen Rehs. Sie gefiel ihm doch auch sehr, das musste Rollo schon zugeben. Sicherlich würde sie eine hübsche Braut abgeben, wenn doch bloss ihr Vater endlich vor die Tür treten würde.
Ragnar betrachtete den nervösen Burschen mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. Die Narbe verzog seinen Mund in eine Schieflage, so dass seine gelben Zähne hervorblitzten. Seine rostblonden Haare hatte er streng nach hinten gestrichen.
„Lass dich nicht von einem störrischen Vater verunsichern!", grunzte Ragnar dem jungen Mann zu.
Rollo blickte ihn nervös an.
„Ich will mir keine weitere Peinlichkeit leisten, Jarl Ragnar. Es war schon demütigend genug, an der Türschwelle zu erfahren, dass die Heilerin die Stadt verlassen hatte."
Ragnar bleckte die Zähne bei dem Gedanken. Ja, wahrlich. Es war ärgerlich, dass die Fränkin einfach spurlos verschwunden war. Die besondere Frau, die er erstmals in der Geschichte seiner Sippe als Fremde in die nordische Gesellschaft und in seine Sippschaft aufgenommen hatte, war wie vom Erdboden verschluckt worden.

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Belagerung
Historical FictionBand II Auf sich gestellt und tief verletzt begibt sich Aveline auf die Rückreise in ihre alte Heimat. Mit einem einzigen Ziel vor Augen: Zurück zu ihren Wurzeln. Ein beschwerlicher und gefährlicher Weg steht ihr bevor, auf welchem sie so manch kuri...