Hammaburg - Ostfränkisches Reich
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„Vergibt mir, Vater, denn ich habe gesündigt", flüsterte Aveline in die kühle Luft der Kirche.
Ihre Schienbeine schmerzten vom harten Grund. Sie kniete vor dem Beichtstuhl, auf welchem der Mann Gottes mit gesenktem Kopf thronte.
„Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit", antwortete der Priester mit ernster Stimme. „Sprich mein Kind."
Der Beichtstuhl stand in einer Nebenkammer der Kirche. Der Raum war kühl und schlecht belichtet, so dass sich die Schuldigen im Schutz der Dunkelheit trauten, ihre Sünden von ihren gequälten Seelen zu reden. Der Priester blickte aus Höflichkeit auf seine Hände und vermied es, den Sündern in die Augen zu schauen. Hier sollte jeder möglichst seine Würde und Anonymität bewahren dürfen.
Aveline hatte vor Kurzem Hammaburg erreicht. Als sie den hohen Kirchturm in der Ferne erblickt hatte, war sie sofort durch die Türen des Gotteshauses getreten, um sich von ihren Sünden zu befreien, denn sie sah keinen anderen Ausweg mehr. Zu sehr plagten sie diese grausamen Albträume und die schrecklichen Visionen. Sie hoffte mit der Beichte der seelischen Qual endlich ein Ende setzen zu können, von der ewigen Verdammnis befreit zu werden und den Dämon, der sie verfolgte, von sich abschütteln zu können. Sie wusste, dass nur noch Gott ihr helfen konnte und so hoffte sie, dass sie in der Kirche seine Hilfe erhalten würde.
Obwohl sie während ihrer Lebzeit zwar immer ein sittliches Mädchen gewesen war, war sie nie mit inbrünstiger Überzeugung fromm gewesen. Es war gerade mal ihr zweites Mal am Beichtstuhl und an diesem Möbelstück hingen keine guten Erinnerungen.
Das erste Mal war sie von ihrem eigenen Vater in die Kirche geschleppt worden, weil sie ihren jüngeren Bruder im Streit übel beschimpft hatte. Nachdem der Vater ihr ordentlich das Maul mit Seife ausgewaschen hatte, war er mit Aveline im Schlepptau in die kalte Kirche gegangen, hatte sie vor den Priester gestellt und sie dazu gezwungen, eine Beichte abzulegen.
Seither hatte Aveline den Beichtstuhl gänzlich gemieden und war nur, wenn sie ihre Eltern zum sonntäglichen Gottesdienst begleitete, in die Kirche mitgekommen. Sie verstand allerdings nicht, was an den Messen so spannend sein konnte, denn die Priester erzählten die Geschichten Gottes immer nur auf Latein. Eine Sprache, die kaum jemand - ausser die Priester selbst - verstand. Aveline vermochte es nicht nachzuvollziehen, warum alle Gläubigen dem Priester an den Lippen hingen, wenn doch kaum einer wusste, wovon er gerade sprach.
Sie selbst hatte die Gotteslehren von den Nonnen beigebracht bekommen. Immer dann, wenn sie für ihre Mutter ins Kloster ging, um die Kräuter und Seifen gegen Ziegenmilch oder Butter zu tauschen. Vielleicht waren ihr aus diesem Grund weibliche Glaubensanhängerinnen irgendwie sympathischer als ihre männlichen Pendants.
Der Priester vor ihr blickte düster auf seine Hände. Sie traute sich kaum, ihm in wenigen Momenten ihre schlimmsten Sünden zu offenbaren. Sie hoffte, dass der ältere Mann vor ihr stabil auf seinem Stuhl sass, denn das, was sie ihm in wenigen Atemzügen beichten würde, könnte selbst den standhaftesten Mann Gottes von den Füssen hauen.
„Vater, ich...", murmelte sie, doch ihre Stimme brach ab.
„Sprich, mein Kind. Fürchte dich nicht vor Gottes Urteil und seiner Barmherzigkeit."
Aveline schluckte leer. Wie würde sie es bloss schaffen, diese ganze Last von ihrer Seele abzuladen? Bei Schwester Joscelin waren ihr die Worte so leicht über die Lippen gekommen. Vor diesem Priester verspürte sie aber grosse Furcht, auch wenn sie wusste, dass sie eigentlich keine Angst haben sollte. Dieser Mann hatte vor Gott geschworen, in seinem Namen den Menschen ihre Sünden abzunehmen und ihnen in Gottes Namen zu verzeihen. Es war sichergestellt, dass der Priester mit ihrer Sünde ins Grab gehen würde, ohne jemandem davon erzählen zu dürfen. Ihre Sünde war sozusagen ein Geheimnis, welches der Priester mit niemandem, ausser Gott, teilen durfte.

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Belagerung
Ficción históricaBand II Auf sich gestellt und tief verletzt begibt sich Aveline auf die Rückreise in ihre alte Heimat. Mit einem einzigen Ziel vor Augen: Zurück zu ihren Wurzeln. Ein beschwerlicher und gefährlicher Weg steht ihr bevor, auf welchem sie so manch kuri...