14 - Ostermond

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Triggerwarnung:
Meine Lieben. Aus Respekt den sensiblen Geschöpfen dieser Welt gegenüber, möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die folgenden beschriebenen Ereignisse für manche Gemüter schwer zu verdauen sein könnten. Ihr seid hiermit gewarnt.

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Hedeby, Südjütland

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Die hagere Nonne stand mit einem leeren Korb in der Hand vor Aveline. Sie trug ein einfaches Leinenkleid und ihre dunklen Haare versteckten sich nicht mehr unter einer Haube, sondern waren zu einem festen Zopf nach hinten geflochten. Eine Frisur, wie Normanninnen sie trugen. Die Nonne glich kaum noch der Frau, die Aveline aus ihrer Vergangenheit in Fécamp kannte. Sie war dürr, ihre Haare waren von grauen Strähnen überzogen und auf ihrem Gesicht zeigten sich tiefe Furchen.

Trotz ihrer besorgniserregenden Erscheinung, schenkte Schwester Joscelin Aveline ein warmes Lächeln.

„Schwester!", stiess Aveline ein zweites Mal aus, denn sie konnte nicht glauben, dass sie vor einer vertrauten Person stand.

„Aveline, mein Kind", sagte die Nonne mit einem ähnlich überraschten Ton in der Stimme. „Du lebst, Gott sei Dank! Ich habe jeden Tag für dich gebetet."

„Ich kann es nicht glauben, Euch hier anzutreffen! Wie seid ihr hierher gekommen?"

„Ich wurde nach Hedeby gebracht, nachdem man mich in der Hafenstadt verkauft hatte", antwortete die Schwester. „Wo hat man dich -?"

„Vestervig. Nordjütland", antwortete Aveline zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Die Nonne nickte stumm. Sie schien Kenntnisse über die Siedlungen der Normannen zu haben. Auch sie lebte schon eine beträchtliche Zeit unter Wikingern. Ihre freie Hand strich über Avelines Wange, während in ihren grauen Augen ein besorgter Glanz schimmerte.

„Ich habe dich kaum erkannt. Du bist in keinem guten Zustand, mein Kind. Was ist geschehen? Warum hängt der Tod an dir?"

„Der Tod hängt an mir?", fragte Aveline verwundert.

Der Schmerz in ihrer Körpermitte flammte wieder auf und sie keuchte. Sie taumelte auf ihren Beinen vor und zurück, was die Nonne dazu veranlasste, sie an der Schulter zu greifen, um ihr Stabilität zu geben. Aveline versuchte aufrecht zu stehen, aber es war unmöglich. Sie stand gebückt da und klammerte ihre Arme um den Körper.

„Was ist mit dir?", fragte Joscelin.

„Krämpfe", murmelte Aveline und verzog das Gesicht.

Die Schwester blickte ihre Freundin lange an und schien zu überlegen. Dann packte sie Aveline am Oberarm und schleppte sie der Hauptstrasse entlang weg vom Marktplatz. Der leere Korb an ihrer Seite wippte auf und ab.

„Komm, mein Kind. Du brauchst etwas zu Essen. Der Hungertod macht sich schon in deinem Magen breit."

Aveline strauchelte der Nonne hinterher. In ihrem Leib spürte sie wieder dieses schreckliche Ziehen, welches weisse Punkte vor ihren Augen tanzen liess. Dass sich Hunger so schlimm anfühlen könnte, hätte sie nie gedacht.

„Wohin gehen wir?", keuchte sie.

Die Nonne antwortete nicht auf ihre Frage. Sie zog sie weiterhin am Ellbogen hinter sich her. Nachdem sie ein beachtliches Stück dieselbe Strasse zurückgehastet waren, auf welcher Aveline vor wenigen Momenten angekommen war, bogen sie in eine enge Seitengasse und tauchten ins Häusermeer. Man musste hintereinander gehen, so eng war es auf dieser kleinen Strasse. Bewohner wichen entrüstet zur Seite, als Schwester Joscelin mit ihren bestimmten Schritten und ihrem grossen Korb an ihnen vorbeimarschierte, Aveline im Schlepptau.

BelagerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt