36 - Wonnemond

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Vor Rouen, Westfränkisches Reich

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Aveline und Luca folgten Rurik schweigend, wie er in einer Geschwindigkeit durchs Unterholz marschierte, die für sie beide schwer zu halten war. Der Wikinger schien zu wissen, welche der vielen Brücken sie in der Gegend erkunden wollten. 

„Rurik, warte bitte", sagte Aveline etwas ausser Atem, als sie am Waldrand angekommen waren.

Er blieb stehen und drehte sich zu ihnen um. Erst jetzt bemerkte er, dass er einen grossen Vorsprung aufgebaut hatte. Aveline hinkte und hatte sichtlich Mühe, barfuss durch das Unterholz zu gehen. Luca unterstützte sie dabei, indem er ihre Hand hielt und ihr über die Büsche und Wurzeln half. 

„Deine Füsse?", fragte Rurik.

Als Antwort gab sie ihm nur ein stummes Kopfnicken und stützte sich am rauen Stamm einer Fichte ab. Sie hob einen Fuss an und begutachtete die Sohle. Rote Striemen auf dem Fussballen und eine grosse Blase an der Ferse traten nebst den Narben deutlich hervor. Sie zog zischend die Luft ein und hob den anderen Fuss an, der ein ebenso schreckliches Bild bot.

Ruriks Blick blieb auf ihren geschundenen Füssen hängen, während sich Luca hinter Aveline auf den Boden plumpsen liess.

„Ich brauche eine Pause!", stöhnte der Sklave.

Ihm schien alleine die Tatsache, dass er früh aufgestanden und bereits in der Stadt gewesen war, Grund genug dafür zu sein, sich wieder ausruhen zu dürfen.

„Wir haben keine Zeit für eine Rast!", dröhnte Rurik.

Luca brummte irgendwas Unverständliches, was seinen Unmut deutlich machte. Rurik ignorierte das allerdings gekonnt und richtete weiterhin seinen Fokus auf Aveline.

„Wie willst du eigentlich bei Tageslicht durchs Land ziehen? Ist das nicht zu gefährlich?", fragte Aveline, um von ihren Fusssohlen abzulenken.

Sie wollte nicht, dass man sich auf ihre körperliche Schwäche fokussierte. Es galt schliesslich Nouel so rasch wie möglich zu finden, da mussten ihre Sohlen warten. Schliesslich war ihre Frage mehr als berechtigt, denn bisher war Rurik meist nur Nachts oder in der Dämmerung durchs Land geschlichen. Es war für seine Verhältnisse unglaublich leichtsinnig, bei helllichtem Tag loszuziehen und sich den Franken so sehr auszusetzen.

„Es muss gehen", meinte er schulterzuckend.

Sie blickte ihn skeptisch an. Luca lachte hinter ihr spöttisch auf.

„Meinst du so wie beim letzten Mal, als man dich gesehen hat und die Bauern dann die Soldaten gerufen haben und wir davonspringen mussten? Auf sowas habe ich nicht nochmal Lust!"

Rurik liess hörbar ein Brummen von seiner Brust, das den Waldboden fast zum Vibrieren brachte. Dieser Vorfall schien keine guten Erinnerungen in ihm zu wecken. Er wusste, dass es fahrlässig war, sich bei Tageslicht zu zeigen. Seine Übergrösse konnte er so nicht verstecken. 

Er wandte seinen Blick von Aveline ab und liess ihn über die Felder schweifen, die sich hinter dem Waldrand erstreckten. Eine ganze Weile lang würden sie ohne den Schutz der Bäume durchs Land marschieren müssen. Er schwieg, während er nachdachte.

„Wir könnten dich ja einfach hier lassen und ohne dich weiterziehen", murmelte Luca vor sich hin.

Rurik warf dem Sklaven einen mörderischen Blick zu.

„Und beim nächsten kräftigen Windstoss wirst du davon geblasen und Aveline steht dann alleine da", gab er dem Sklaven zurück.

Luca verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, denn er wusste, dass sie ohne Rurik nicht weiterziehen konnten. Der Normanne besass Fähigkeiten, von denen der Sklave nur träumen konnte und solange Kjetill und Emmik hinter den Buben her waren, brauchten sie jemanden mit Kampferfahrung.

BelagerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt