Vestervig, Nordjütland
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Als sie in die Versammlungshalle traten, drehten sich die Köpfe in ihre Richtung und die Musik, die zuvor gespielt hatte, brach ab. Ein Raunen ging durch die Menge, als man realisierte, dass Rurik Jarson - der schnellste Mann Nordjütlands - von den Toten auferstanden war. Ragnar Sigurdson sass auf seinem Thron und starrte mit funkelnden Augen zu seinem Krieger.
Inga erblickte ihren geliebten, totgeglaubten Rurik und stürzte sich augenblicklich auf ihn, Tränen der Freude in den Augen. Sie hatte ihn besuchen wollen, nachdem sie von den schrecklichen Neuigkeiten erfahren hatte. Die blöde Schwester von Rurik hatte sie aber nicht zu ihm gelassen, weil sie gedacht hatte, sie - die Liebe seines Lebens - würde ihm nicht guttun. Inga hatte vor Ruriks Haus getobt und gezetert, aber auch Hjalmar hatte darauf bestanden, dass es besser für Rurik sei, wenn er im Kreise seiner Familie sterbe. Als gehöre sie nicht dazu! So eine Frechheit von diesem einfachen Bauernvolk.
Inga hatte sich schon fast damit abgefunden, dass sie das Kind, welches sie im Bauch trug, alleine auf die Welt bringen müsse. Aber allem Anschein nach hatten ihre Opfergaben den Göttern genügt! Ihr Zukünftiger und der stolze Vater ihres ungeborenen Kindes hatte überlebt! Sie rannte zu ihm und schubste dabei ein kleines Kind um, das ihr im Weg stand.
Bevor sie Rurik jedoch mit einer gewaltigen Umarmung nach Asgard befördert hätte, stoppte sie Hjalmar mit seinen kräftigen Armen.
„Er ist noch schwer verletzt, Inga. Halte dich bitte zurück", sagte er ernst.
Inga warf ihm einen giftigen Blick zu, aber liess sodann von ihrem Vorhaben ab, als sie den Schweiss auf Ruriks Stirn und sein schmerzverzerrtes Gesicht sah. Er stand krumm im Raum, kreidebleich, sein Arm über den Schultern seines Freundes gehängt. Rurik keuchte schwer. Er litt, das sah man ihm und seinem blassen Gesicht deutlich an. Inga erschrak beim Anblick des miserablen Zustands ihres zukünftigen Mannes.
„Jetzt sieh mal einer an! Rurik Jarson hat sich entschieden, doch noch eine Weile in Midgard zu bleiben. Wie gebührt uns denn diese Ehre?", dröhnte Ragnar von seinem Thron aus und erhob sich.
Der Jarl trug festliche Kleidung, genauso wie alle anderen Anwesenden in der Halle. Eine dunkelgraue Tunika mit leichtem V-Ausschnitt und weiss gestickten Verschnörkelungen schmückte seinen Körper. Ein grosser bronzener Thorshammer hing ihm um den Hals und silberne Perlen glänzten in seinem Bart.
Es war der dritte Festtag der Vermählung von Rollo und Torvi und die Gäste waren in guter Stimmung. Manche Gesichter blickten amüsiert zu den Neuankömmlingen, andere tuschelten einander Tratsch in die Ohren. Es war heiss in der Halle, was wenig Gutes zu Ruriks Gesundheitszustand beitrug. Schwindel plagte seinen Kopf und er schwankte, trotz der Stütze von Lokis mageren Schultern.
„Du... hast nach mir verlangt?", keuchte er.
„Ja, das habe ich. Lass uns aber dafür in meine Kammer gehen. Wir wollen die Hochzeitsgesellschaft ja nicht in ihren glücksverheissenden Feierlichkeiten stören", sagte Ragnar und schritt zur Tür, die in seine private Kammer führte.
Er blickte nicht über die Schultern, denn er erwartete, dass sein Hauptmann ihm folgen würde. Rurik löste sich von Lokis Körper und schleppte sich in Ragnars Richtung. Sein Schwager und sein Freund blieben zurück, denn sie wussten, dass ihm eine Privataudienz mit dem Häuptling blühte. Ein Gespräch, an welchem sie nicht teilnehmen durften und sicherlich auch nicht wollten.
Derweilen nahm die Hochzeitsgesellschaft das Feiern wieder auf. Inga setzte sich zu ihrer Freundin Torvi, die strahlend am Ende des langen Tisches sass. Ingas Augen klebten auf Rurik, während das Glücksgefühl in ihrem Magen nicht abklingen wollte. Ihre Hand wanderte automatisch zu ihrem Unterleib.
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Belagerung
Historical FictionBand II Auf sich gestellt und tief verletzt begibt sich Aveline auf die Rückreise in ihre alte Heimat. Mit einem einzigen Ziel vor Augen: Zurück zu ihren Wurzeln. Ein beschwerlicher und gefährlicher Weg steht ihr bevor, auf welchem sie so manch kuri...