38 - Brachmond

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An der Seine, Westfränkisches Reich

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Der Steinadler sass auf den obersten Ästen der Fichte und liess seine Augen über die Landschaft gleiten. Er wirkte ruhig, wie er da sass und sich ab und zu eine Feder im Gefieder zurecht zupfte. Unter ihm im dichten Wald war ein Jäger auf der Pirsch. Er trug eine schwarze Hose und lief mit entblösstem Oberkörper durch das Unterholz, ohne Pfeil und Bogen. Wie wenn das selbst den Adler überraschte, legte er seinen Kopf schief, um den Mann dort unten genauer in den Fokus zu nehmen.

Dann breitete er seine Flügel aus und hob in die Lüfte. Er folgte dem Mann eine ganze Weile lang. Der Jäger stellte einem Reh nach, das ihn allerdings gewittert hatte und in zügigen Sprüngen flüchtete.

Eigentlich hätte das zarte Reh flinker sein sollen, aber der Mann war so unglaublich schnell, dass er es zwischen die Finger bekam und es zu Boden warf. Das Reh zappelte um sein Leben, während sich der Jäger darüber beugte. Der Adler hatte genug gekiebitzt und sank in weiten Kreisen bis auf Bodennähe herab. Der Mann am Boden merkte nichts von der drohenden Gefahr, die lautlos von hinten heranglitt.

Als die Krallen des Adlers sich in das Fleisch des Jägers bohrten, erwachte Aveline aus ihrem Albtraum.

Luca, der hinter ihr schlief, merkte nichts von ihrem Aufzucken. Rurik, der auf der anderen Seite neben ihr lag, war aufgewacht und stützte sich auf einem Arm ab.

„Alles in Ordnung?", murmelte er schlaftrunken.

Aveline wartete, bis sich ihr Herz in ihrem Brustkorb beruhigt hatte und antwortete dann, dass es nur ein schlechter Traum gewesen sei. Rurik legte sich wieder der Länge nach hin und so schnell, wie er aufgewacht war, schlief er wieder ein.

Die drei hatten sich nach dem grossen Streit allesamt schweigend ans Feuer gesetzt. Eine Weile lang hatte sich Luca zwar noch darüber beschwert, dass Aveline eindeutig Ruriks Standpunkt favorisiert hatte, obwohl sie eigentlich seine Seite hätte einnehmen müssen, aber danach war es still geworden. Sie hatten keine Energie mehr gehabt, sich anzuschreien und so waren sie irgendwann nebeneinander eingeschlummert.

Aveline drehte Luca den Rücken zu und legte sich seitlich hin. Der merkwürdige Albtraum bereitete ihr Sorgen. Sie wusste, dass ihre Träume wirre Dinge zeigten, die in der nahen Zukunft geschehen würden. Ihre Mutter hatte immer gemeint, dass Träume eine Zusammenfügung von Vergangenheit und Zukunft seien und wenn man sie richtig las, darin Hinweise für zukünftige Geschehnisse zu finden waren.

Aveline überlegte, während sie Ruriks schlafendes Profil betrachtete. Dieser Jäger, den sie in ihrem Traum auf der Pirsch gesehen hatte, musste Rurik gewesen sein. Dessen war sie sich ganz sicher. Ihr war es allerdings ein Rätsel, weshalb sie von ihm träumte und welche Bedeutungen ihr Unterbewusstsein dem zuschreiben wollte.

Welche Zukunft hatte sie da gesehen?

Ihre Gedanken kreisten und machten ihre Lider immer schwerer. Es war mitten in der Nacht und das kleine Feuer schimmerte schwach in der Dunkelheit des Waldes. Aveline betrachtete Ruriks ruhende Gesichtszüge, während sie selbst wieder langsam in den Schlaf driftete. Da drehte er sich plötzlich auf die Seite, so dass seine Front ihr zugewandt war. Den Arm, auf dessen Schulter er lag, streckte er aus und beinahe hätte er ihr ins Gesicht geschlagen, wenn sie nicht reagiert hätte und gerade noch rechtzeitig zurückgewichen wäre. 

Sie musste schmunzeln, denn sie erinnerte sich daran, dass Rurik ein unruhiger Schläfer war. Er bewegte sich so arg in der Nacht, dass es für jede Person, die mit ihm das Bett teilte, sehr unangenehm werden konnte. Der Mann war schon gross genug und beanspruchte bereits unglaublich viel Platz und dann warf er sich im Schlaf auch noch wild hin und her.

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