Eineinhalb Jahre danach
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„Heilige Maria Mutter Gottes!", rief Faralda aus und hielt sich die Hand an die Brust.
Vor ihr erhob sich am Gipfel der steilen Klippe ein prächtiges Steinhäuschen mit einem atemberaubenden Ausblick über den Ozean. Möwen segelten im sanften Lüftchen, das vom Meer aus über das Land zog. Die Sonne stand steil und warf glitzernde Kristalle über die Wellen.
„Die hätte mir ruhig sagen können, dass ich erst einen Berg erklimmen muss, um sie besuchen zu können", grummelte Faralda und wischte sich die Schweissperlen von der Stirn.
Es war Sommer und verdammt heiss. Sogar an der rauen Küste des westfränkischen Reiches konnte die Hitze ins Unerträgliche steigen. Die Luft flimmerte und selbst die Insekten schienen sich verzogen zu haben.
Faralda näherte sich dem Haus, während sie die Fensterläden und die Dachziegel musterte. Ein wirklich feines Häuschen war das. Eine hüfthohe Steinmauer umgab es und bot Platz für einen wunderschönen Kräutergarten, der sich dicht und grün an die Mauer lehnte.
„Faralda! Da bist du ja!", hörte sie plötzlich die altbekannte Stimme.
Aus den hohen Gräsern erhob sich eine Gestalt. Es war Aveline, die im Garten kniete und gerade dabei war, Unkraut auszureissen. An ihren Fingern klebte die Erde, sodass selbst ihre Fingernägel schmutzig waren. Sie schob sich dennoch mit dem Handrücken eine kupferne Strähne aus der Stirn. Es kümmerte sie nicht, dass sie sich dabei Dreck ins Gesicht schmierte.
„Kleiner Krüppel!", stiess Faralda glücklich aus und näherte sich dem Garten.
Aveline sprang zwischen den Kräutern und Sträuchern hervor und breitete ihre Arme aus. Ein warmherziges Lächeln umspielte ihren Mund.
„Lange nicht gesehen!", stiess sie aus und umarmte die Hure.
Faralda schlang die Arme um ihre Freundin.
„Bist fett geworden seit dem letzten Mal", stellte sie fest.
„Die Meeresbrise tut mir halt gut", erwiderte Aveline bloss und löste sich von der Umarmung.
Faralda stütze ihre Fäuste in die Hüfte und betrachtete ihre Freundin, die so strahlend vor ihr stand. Ein wahrlich toller Anblick!
„Du siehst echt gut aus!", meinte Faralda dann.
„Du ebenfalls", schmunzelte Aveline.
Die Freundinnen blickten sich schweigend an, beide schlicht erfreut über die Anwesenheit der anderen. Lange war es her gewesen, seit sich ihre Wege getrennt hatten.
„Du musst durstig sein. Komm, ich habe kalten Kräutertee vorbereitet", sagte Aveline dann und hakte sich bei ihrer Freundin ein. „Ich will dir mein neues Zuhause zeigen."
„Liebend gerne. Ich will ja wissen, wie die berühmteste Heilerin des westfränkischen Reiches haust und lebt!", sagte Faralda.
Die Frauen lachten und stiegen die Stufen zum Eingang empor. Als sie hereintraten, eröffnete sich vor Faralda eine prächtige Wohnstube. Sofort wehte ihr ein Duft nach getrockneter Melisse und Salbei entgegen. In der Mitte des Raumes glühte ein schwaches Feuer, darüber stand ein Kupferkessel. An den Querbalken hingen etliche kleine Kräuterbündel, die Aveline zum Trocknen aufgehängt haben musste.
Sie setzten sich an den Tisch und Aveline goss ihrer Freundin einen Becher mit dem kalten Kräutergetränk ein.
„Jetzt erzähl mal! Was hast du so getrieben, nachdem ich dich gehenlassen habe?", leitete Faralda das Gespräch ein.

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Belagerung
Ficción históricaBand II Auf sich gestellt und tief verletzt begibt sich Aveline auf die Rückreise in ihre alte Heimat. Mit einem einzigen Ziel vor Augen: Zurück zu ihren Wurzeln. Ein beschwerlicher und gefährlicher Weg steht ihr bevor, auf welchem sie so manch kuri...