6 - Lenzmond

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Vestervig, Nordjütland

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Loki sass einmal mehr an derselben Stelle auf dem Boden neben dem Krankenbett von Rurik und trommelte mit seinen Fingern nervös auf die Latten der Pritsche. Im Rhythmus seiner Trommelschläge sagte er:

„Wach auf. Wach auf. Wach auf. WACH AUF!"

Nach der letzten Wiederholung schlug er jeweils hart an den Bettrand, in der Hoffnung, der Stoss könnte den leidenden Rurik wecken. Jedes Mal hielt er für einen kurzen Augenblick inne und starrte gespannt ins Gesicht seines Freundes, so als erwarte er eine Regung. Aber da war nichts. Der sterbende Rurik liess sich diese Tortur ohne mit der Wimper zu zucken über sich ergehen. Loki begann von vorne.

„Wach auf. Wach auf. Wach auf. WACH AUF!"

Wieder nichts. Sein Freund lag unverändert still auf der Liege. Aber es gehörte nicht zu Lokis Art, jemals aufzugeben. Da hatten die Götter seine Sturheit unterschätzt. Er würde bis zu seinem eigenen Lebensende hier sitzen und trommeln, wenn das seinen Freund zurückbrachte. Loki Marson war nicht ein Normanne, der sich seinem Schicksal beugte. Nein. Er war derjenige, der das Schicksal selbst formte. Und zwar so, wie er es wollte.

Er fuhr mit seinen nervigen Trommelschlägen fort.

„Wach auf. Wach auf. Wach auf. WACH AUF! Wach auf. Wach auf. Wach auf. WACH AUF! Wach auf. Wach auf. Wach auf. WACH AUF!"

Allmählich verfloss die Zeit, die Loki mit seinem Freund verbringen konnte, denn nicht mehr lange und er würde auf Plünderung gehen müssen - ohne seinen besten Kameraden, ohne seinen grössten Beschützer im Kampf. Das wollte Loki einfach nicht akzeptieren. Noch nie war er ohne Rurik in eine Schlacht gezogen und der Gedanke, er würde in Zukunft alleine auf Raubfahrt ziehen müssen, verpasste ihm ein scheussliches Gefühl.

Er hatte nach dem Aufstehen entschieden, seinem sterbenden Freund heute so mächtig auf die Nerven zu gehen. Ihm waren alle Mittel Recht und Hjalmars ‚still sitzen und ruhig bleiben' hatte ja offensichtlich nichts geholfen. Er würde das nun nach Lokis Manier machen: körperliche Belästigung. Er trommelte unaufhörlich auf die Holzplatte der Pritsche.

Plötzlich hielt er in seiner Bewegung inne, denn er glaubte eine Zuckung in Ruriks Gesicht erkannt zu haben. Er traute sich gar nicht, sich zu bewegen und blinzelte angestrengt in das leblose Gesicht.

„Hm. Muss mich wohl getäuscht haben", sagte er dann laut und setzte mit dem Hämmern fort. „Wach auf. Wach auf. Wach auf. WACH AUF!"

Er trommelte sich fast selbst in eine Trance, als er von Hjalmar unterbrochen wurde, der ihn bloss mit gerunzelter Stirn musterte. Loki senkte seine mittlerweile taub gewordenen Finger von der Bettkante.

„Kannst du ihm dieses Mal die Wunde versorgen?", fragte Hjalmar müde.

Er hatte wie Salka diese Nacht kaum geschlafen. Sie waren zutiefst erschöpft. Die Trauer nagte an ihren Kräften und mit jedem Tag, der verging, befürchteten sie, dass der unausweichliche Tod näher rückte. Verzweifelt klammerte sich Salka an die Hoffnung, aber auch sie sah ein, dass es eigentlich kaum noch etwas zu hoffen gab. Hjalmar wusste mittlerweile auch nicht mehr, welche tröstenden Worte er ihr zuflüstern sollten, denn es gab nichts mehr, was er sagen konnte, um sie aufzumuntern. Es war fast offensichtlich, welches Ende sie hier erwartete. Hjalmar und Salka hatten sich dem Willen der Götter und dem Schicksal ergeben. Nicht aber Loki - noch nicht!

Loki nickte und nahm das feuchte Tuch und die Wundsalbe aus Hjalmars Händen.

„Wir sind im Tempel", brummte der Bärtige.

BelagerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt