Fécamp, Westfränkisches Reich
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Der kleine braune Spatz, der Aveline auf den Bauch gehüpft war, flog schnell davon, als sie sich zu strecken begann. Sie gähnte laut und rollte sich auf die Seite, um weiter zu schlummern. Das sanfte Seufzen des Meeres rauschte in der Ferne und wiegte sie beinahe wieder in den Schlaf.
Drei Tage hatte sie mitten im überwucherten Kräutergarten ihrer Mutter geschlafen, umzingelt von den Gräsern, Sträuchern und Blumen, die hier jedes Jahr wuchsen. Die Sonne schien Aveline ins Gesicht, weshalb sie langsam die Lider öffnete. Ein sanftes Lüftchen schob den salzigen Geruch des Meeres vom Strand zu ihrem Haus herauf. Sie lächelte. Seit Langem lächelte sie wieder, weil ihr danach war. Das hier war ihr Zuhause und hier konnte ihr Herz, ihre Seele heilen. Der schwere Eisklumpen in ihrer Brust war geschmolzen und liess sie freier Atmen, liess ihr Herz wieder die Wärme des Lebens spüren.
Sie schloss genüsslich die Lider und verharrte eine Weile noch auf der Seite liegend in der Sonne im hohen Gras, zwischen Kräutern und Schnecken. Dann erhob sie sich und schritt ein allerletztes Mal den geschwungenen Weg zum Tor hoch, das zur Strasse und weg von ihrem Haus führte. Sie blickte nicht mehr zurück, denn der Anblick der Trümmern wollte sie nicht mehr sehen.
Die Wunden in ihrem Herzen hatte sie während drei Tage bluten lassen, damit sie versiegen und heilen konnten. Zurückzublicken hätte ihr nicht geholfen mit diesem Kapitel abzuschliessen. Dieses Leben in Fécamp war vorbei. Es war schon lange vorbei gewesen, aber sie hatte diesen Abschied gebraucht.
Sie hatte es gebraucht, im Kräutergarten zu knien, um dem Tod ihrer Mutter nachtrauern zu können. Sie hatte den Geruch der Fischernetze einatmen müssen, damit sie noch einmal die Erinnerungen an ihren Vater hatte aufflackern lassen können. 'Der Trauer muss man den Raum geben, damit man sie überwinden kann.' Das hatte ihre Mutter ihr einst gesagt und erst jetzt realisierte Aveline, wie wahr diese Worte doch waren.
All die Zeit in Jütland hatte sie kaum um den Verlust ihrer Familie trauern können. Wie auch? Mit der Distanz und den Ablenkungen des neuen, ungewöhnlichen Lebens war es ein Leichtes gewesen, die traurige Tatsache zu ignorieren. Nun hatte sie sich aber der Realität gestellt und all das, was sie in Vestervig versäumt hatte, nachgeholt. Sie spürte, wie gut es ihr getan hatte und wie viel näher sie sich ihren Eltern fühlte.
Sie schritt den Weg entlang, der aus der Stadt führte. Links und rechts von ihr erhoben sich die Ruinen aus dem Boden. Aveline richtete den Blick vor sich auf den geschotterten Weg, denn sie wollte nicht das Elend sehen, das hier vor einiger Zeit veranstaltet worden war.
Sie wollte sich auf ihr nächstes Ziel fokussieren: Étretat. Das Nachbardorf, welches nach Angaben des Fischers die Überlebenden aus Fécamp aufgenommen hatte. Sie hoffte, dort Nouel oder Spuren von ihm zu finden. Aveline wusste zwar noch nicht, wie sie ihren Bruder ausfindig machen würde, aber sie war zuversichtlich, dass sie irgendwie an Informationen herankommen würde.
Zwischen ihren Fingern hielt sie den Rosenkranz fest umklammert. Mit dem Daumen strich sie Kreise über die braunen Kugeln, sodass das raue Material gegen ihre Haut kratzte, dann küsste sie das kleine Holzkruzifix. Gott würde ihr beistehen und ihr auf diesem Weg helfen, dessen war sie sich sicher. Seit sie in der Kirche gewesen war und Faralda kennengelernt hatte, hatte sich ihr Leben zum Besseren gewendet. Sie hoffte, dass dieses Glück noch lange anhalten würde.
...
Am frühen Nachmittag erreichte sie Étretat. Die Sonne schien wohlig warm auf die Siedlung herab. Die Kleinstadt lag ähnlich wie Fécamp an einem grossen Strand, der von weissen, runden Steinen bedeckt war. Fischerboote ankerten vor dem Hafen. Anders als in ihrem Heimatdorf, spürte man in Étretat nichts von dem Wikingerüberfall vom letzten Jahr. Hier lagen die Häuser nicht in Trümmern und waren auch nicht mit Efeu überwachsen.
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Belagerung
Tarihi KurguBand II Auf sich gestellt und tief verletzt begibt sich Aveline auf die Rückreise in ihre alte Heimat. Mit einem einzigen Ziel vor Augen: Zurück zu ihren Wurzeln. Ein beschwerlicher und gefährlicher Weg steht ihr bevor, auf welchem sie so manch kuri...