13 - Ostermond

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Auf dem Ochsenweg, Südjütland

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„Und in welcher Richtung soll diese Stadt liegen?", fragte Aveline mit heiserer Stimme.

Ihr Körper schwankte bedrohlich auf dem Rücken ihres Pferdes, ihre Schenkel presste sie an Haskis Rippen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

„Südöstlich von hier. Du wirst sie nicht verfehlen können", antwortete die Bäuerin.

„Vielen Dank", murmelte Aveline.

„Du solltest wirklich etwas zwischen die Zähne bekommen, Kindchen. Du fällst mir so sonst nur ein weiteres Mal vom Pferd", sagte die Frau besorgt. „Warum kommst du nicht zu mir auf den Hof? Ich kann dir eine Grütze machen. Dann kommst du wieder zu Kräften. Wer weiss, wie lange du da im Dreck gelegen hast!"

Aveline schüttelte den Kopf. Die Bäuerin hatte sie bewusstlos am Feldrand aufgefunden und wach gerüttelt. Unter dem skeptischen Blick der Fremden war Aveline wieder auf ihr Pferd geklettert.

„Das ist wirklich sehr freundlich, aber ich kann keine Zeit verlieren. Viel zu lange schon irre ich auf diesen Wegen. Ich werde rasten, wenn ich an meinem Ziel angekommen bin."

Die Bäuerin schüttelte den Kopf. Ihre dunkelblonden Haare hatte sie unter einem breitkrempigen, weissen Hut zusammengesteckt.

„Kindchen, so schaffst du es aber sicher nicht an dein Ziel. Ein Hungerhaken bist du."

„Das wird schon gehen. Vielen Dank", murmelte Aveline und gab Haski einen matten Zwicker in die Flanken.

Der Hengst setzte sich in Bewegung und fast wäre sie wieder von seinem Rücken gestürzt, wenn sie sich nicht in letzter Sekunde in seine Mähne geklammert hätte. Ihr Herz pochte unregelmässig in ihrer Brust. Ihre Muskeln zitterten und waren so schwach, dass allein das aufrecht Sitzen ihr unendlich viel Kraft kostete.

Aveline hungerte. Sie hungerte, denn sie hatte es nicht geschafft, an richtige Nahrung zu kommen. Seit sie von zwei Skogamore in Mitteljütland von ihrem Pferd gerissen und bestohlen worden war, hatte sie sich kaum noch im Wald auf die Wege getraut. Sie war durch das Dickicht und Unterholz der Wälder geirrt, was ihr unglaublich viel Zeit gekostet hatte. Ein Feuer hatte sie aus Angst, gesehen zu werden, auch keines angemacht. Die Pflanzen des Waldes waren nicht nahrhaft genug gewesen, als dass sie ihr hätten Kraft schenken können. Aveline war stark abgemagert und das zeigte sich an ihrem Körper. Ihre Wangenknochen stachen deutlich hervor und die Kleidung hing schlaff an ihren knochigen Schultern.

Südjütland war im Vergleich zum hohen Norden karg und kaum bewaldet. Hier konnte sie sich nicht mehr im Unterholz vor Menschen verstecken, denn weite Moore eröffneten sich vor ihr. Ihr war nichts anderes mehr übrig geblieben, als sich auf den verkehrsreichen Ochsenweg zu begeben, um nicht mit Haski im Sumpf irgendwo stecken zu bleiben. Der Ochsenweg war die Hauptschlagader der Normannen. Ein Handelsweg, der sich von Nord bis Süd durch das dänische Jütland schlängelte und grosse Städte miteinander verband.

Auf diesem Weg war sie unter der Sonne und den warmen Temperaturen zusammengebrochen. Haski hatte geduldig neben ihr gewartet, während die vorbeiziehenden Händler und Reisenden ihren leblosen Körper ignoriert und liegen gelassen hatten. Auf dem Ochsenweg sollte man sich nicht in die Angelegenheiten von anderen Reisenden einmischen, denn hier unterschied sich Schurke von Freund kaum noch. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass man sich auf dem Heerweg besser nicht in die Quere kam - das hatte Aveline im Waldstück schmerzlich zu spüren bekommen.

Die Bäuerin, die Aveline aufgelesen und wieder zurück auf ihr Pferd geholfen hatte, lebte ganz in der Nähe und hatte Mitleid mit der armseligen Gestalt auf dem Boden gehabt. Eine der wenigen netten Seelen entlang dieses Weges.

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