7 - Lenzmond

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Bei Jelling, Mitteljütland

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Ein regnerischer Tag brach an und Aveline hievte sich aus ihrer Schlafstätte mitten im Unterholz. Eine weitere Nacht lag hinter ihr, in welcher sie kaum ein Auge zugemacht hatte. Der Regen prasselte durch die Blätter und liess den Wald in der morgendlichen Luft smaragdgrün glitzern. Haski stand in aller Ruhe neben ihr und blickte sie neugierig an. Als sie ihm zärtlich über den Hals streichelte, stupste er sie mit der Nase an.

„Guten Morgen, mein schöner Junge. Hast du in der Nacht wieder auf mich aufgepasst?", flüsterte sie ihm zu.

Ein sanftes Wiehern bekam sie als Antwort.

„Hier, nimm meine letzte Karotte. Die hast du dir verdient", sagte sie und reichte ihm das Gemüse.

Er kaute genüsslich während Aveline ihr Gewand um die Schultern legte. Ihr grünes Kleid war verschmutzt und stank furchtbar. Sie beschloss, bei der nächsten Gelegenheit an einem Gewässer Halt zu machen, um sich selbst und ihre Kleider zu waschen. Irgendwo auf ihrem Weg würde sie sicherlich wieder auf einen See stossen, in welchem sie baden konnte. Ein Bad würde ihre Lebensgeister wieder wecken und den Schmutz und Schweiss von der Haut spülen.

Mit einem Sprung sass sie auf dem Rücken des Pferdes und trieb es in Bewegung. Ein weiterer Tag auf ihrem Weg zurück in die Heimat lag vor ihr. Ein weiterer Tag, an dem sie möglichst unentdeckt durch normannisches Land ziehen wollte.

Mitteljütland war weitläufig, von diversen Seen und Flüssen übersät und nur noch an manchen Orten dicht bewaldet. Zwischen den kleinen Waldstücken erstreckten sich weite Wiesen und Ackerfelder. Aveline hatte für die Nacht in einem Wald Schutz gesucht, denn danach schien es eine Weile wieder nur quer durch eine flache Graslandschaft zu gehen. Eine überschaubare Landschaft, auf welcher sie den Normannen ausgesetzt sein würde.

Sie wusste, dass sie sich nicht mehr in Ragnars Herrschaftsgebiet bewegte, denn sie hatte Männer mit anderen Wappen auf ihren Schilden auf den Wegen reiten gesehen. Dennoch wollte sie möglichst keinem Normannen begegnen. Sie traute diesen Menschen einfach nicht mehr.

Ihr Magen rumorte hörbar. Sie schluckte Spucke, um das leere Gefühl in ihrem Zentrum zu stillen. Sie hatte es noch immer nicht geschafft, ausser ein paar Kräuter und Wurzeln, die der Wald hergab, an feste Nahrung zu kommen. Ihr fehlte die Ausrüstung dafür. Wenn sie bloss den Dolch noch hätte, dann könnte sie sich immerhin einen Speer schnitzen und damit Fische fangen. Mit baren Händen war das einfach unmöglich, insbesondere weil ihre Körperkraft von Tag zu Tag schwand.

Bisher hatte sie es noch geschafft, sich auf den hohen Rücken von Haski zu hieven. Aber heute hatte sie es gefühlt. Es war schwieriger geworden und dieses unaufhörliche weisse Flackern vor ihren Augen bereitete ihr Sorgen. Sie musste an feste Nahrung kommen, sonst käme sie nicht mehr allzu weit und die ganze Flucht wäre umsonst. ‚Nouel hat nichts davon, wenn du einsam im Wald verrottest', dachte sie sich, während der Hengst sich einen Weg durchs Dickicht bahnte.

Und als hätte der Hunger auch angefangen, an ihrem Verstand zu fressen, entschied sie an diesem Tag spontan, den Waldweg zu nehmen, anstatt sich durch das bewachsene und überwucherte Unterholz zu kämpfen. Nur um an einem Tag etwas schneller voranzukommen. Ausserdem hoffte sie, dass der Weg sie in ein Dorf führen würde, in welchem sie sich auf dem Markt Nahrung mit ihren Münzen erwerben konnte.

Obwohl sich die Gefahr von Verfolgern längst gelegt hatte, verspürte Aveline dennoch ein mulmiges Gefühl beim Gedanken, mit Normannen in Kontakt treten zu müssen. Aus dem einfachen Grund, weil sie befürchtete, man könne es ihr ansehen, dass sie sich auf der Flucht befand.

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