17 - Ostermond

2.1K 182 406
                                    

Am Dannewerk, Südjütland

~

Mit jedem Tag, der verstrich, verschwand die Taubheit in Avelines Seele und die Wärme kehrte allmählich in ihren Körper zurück. Die Sonnenstrahlen, die ihr ins Gesicht schienen, vertrieben den Nebel im Kopf und liessen sie aus dem seelischen Tiefschlaf erwachen. Tagelang hatte sie ins Nichts gestarrt, weil sie die Welt nicht mehr mit vollem Verstand hatte wahrnehmen wollen. Jetzt dämmerte es ihr allerdings, dass es für sie höchste Zeit war, wieder aufzubrechen und Hedeby hinter sich zu lassen.

Lange genug war sie ihrer Freundin Joscelin zur Last gefallen und hatte dabei selbst wertvolle Zeit verloren. Fast hätte sie blind vor Trauer und Verzweiflung ihr ursprüngliches Ziel aus den Augen verloren. Sie musste weiterziehen, denn ihr kleiner Bruder war noch nicht gefunden. Er war ihr allerletzter Lichtblick und er war der Grund, warum sie sich nicht im grauen Sumpf ihrer Trauer verkriechen konnte. Sie wollte sich zusammenreissen und alles dafür tun, um ihn zu finden.

Ihre Kraft war dank der Grosszügigkeit der Nonne in ihren Leib zurückgekehrt. Ihre Wangen schienen rosiger als an dem Tag, an dem sie in Hedeby angekommen war. Aveline fühlte sich gestärkt und wieder bei vollem Verstand, um ihre Reise fortzusetzen.

„Hier, nimm das bitte mit", sagte die Schwester beim Abschied und streckte ihr eine kleine Reisetasche hin.

„Schwester, das kann ich nicht annehmen! Ihr braucht die Nahrung doch selbst!", lehnte Aveline ab, als sie sah, dass sich darin ein paar Möhren und gekochte Kerbelrüben befanden. „Ihr wart schon grosszügig genug."

„Ach, ich bin doch bloss eine alte Frau. Meine Kräfte schwinden auch so schon von Tag zu Tag. Dich wird dieses Gemüse weiter bringen, als mich."

Aveline drückte den Beutel fest an ihre Brust und bedankte sich mit einer Umarmung.

„Ich danke Euch. Wirklich. Für alles, was Ihr getan habt. Ohne Euch hätte ich das nicht geschafft."

„Ich weiss, mein Kind."

„Lebt wohl, Schwester. Gott segne Euch!", sagte Aveline und blinzelte die Abschiedstränen weg.

Schwester Joscelin schluckte leer und legte ihre Hände auf Avelines Schultern. Sie blickte ihr lange in die Augen.

„Lebe auch du Wohl, mein Kind. Und bitte vergiss eines nie. Alles, was mit dir auf dieser Reise passiert, geschieht, weil Gott es so will. Du bist genau dort, wo er dich haben möchte", sagte sie ernst.

Aveline senkte ihren Kopf.

„Ich weiss nicht, ob Gott noch bei mir ist", flüsterte sie.

„Manchmal muss man durch die Hölle, um am Ende zur Herrlichkeit zu gelangen. Auch für dich wird die Sonne wieder scheinen, meine Liebe. Das verspreche ich dir", sagte Joscelin und begann im Kragen ihres Kleides zu kramen.

Ein Rosenkranz mit dunkelbraunen Perlen und Holzkruzifix kam unter ihrem Kleid hervor.

„Hier. Nimm den mit, damit Gott immer bei dir ist. Er wird dich beschützen. Sein Wille ist manchmal unergründlich, aber er hat einen Plan mit uns allen. Und jetzt geh, mein Kind. Gott segne dich!", hauchte die Schwester und drückte Aveline die Kette in die Hände.

Aveline starrte auf den Rosenkranz zwischen ihren Fingern. Die hölzernen Kugeln waren rau und abgewetzt. Die Schwester musste diesen Rosenkranz oft benutzt haben und er musste ihr viel bedeuten. Aveline schluckte leer.

Dann drückte sie die Hände der Nonne dankend und bahnte sich den Weg durch die enge Gasse zurück zur Hauptstrasse und zur Pferdekoppel. Als sie sich umdrehte und sah, dass die Schwester noch am Zaun des Schweinegeheges stand, winkte sie zum Abschied ein letztes Mal. Joscelin erwiderte ihr Winken mit einem herzerwärmenden Lächeln und dann war auch sie im Inneren des Hauses wieder verschwunden.

BelagerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt