Île Saint-Denis, Westfränkisches Reich
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Rurik schüttelte beim Anblick der Richtstätte den Kopf. Er stand neben Ragnar und Thorsten und betrachtete das Geschehen vor sich. Die gesamte Wikingerarmee hatte sich auf der kleinen Insel mitten im Fluss versammelt. Etliche Bäume waren von einem naheliegenden Wald gefällt und gemäss Ragnars Wünschen aufgestellt worden. Ein prächtiger, zwölf Meter langer Galgenbalken thronte auf dicken Eichenstämmen, die Stricke baumelten in der kühlen Abendluft. Da es bereits dämmerte, hielten die Männer Fackeln in den Händen, um das Schauspiel nicht zu verpassen.
„Müssen wir das wirklich mit allen 111 Soldaten tun?", fragte Rurik seinen Jarl.
„Ja, mit allen."
„Bei allem Respekt, Ragnar. Ich denke nicht, dass Odin das gutheissen wird."
„Was weisst du schon, was unseren Gott glücklich macht, Rurik!", knurrte Thorsten dazwischen und blickte zufrieden auf die gefangenen Franken, die zitternd am Boden kauerten.
Rurik ignorierte den Kommentar seines Kollegen und liess seinen Blick unentwegt auf Ragnar ruhen.
„Zwanzig Stück hätten auch gereicht", fügte er an. „Mit dem Rest hätten wir Lösegeld aushandeln können."
Ragnar seufzte hörbar genervt und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Nein! Wir wollen doch einen bleibenden Eindruck hinterlassen", lachte der Jarl höhnisch und deutete mit dem Finger zum Hügelkamm auf der anderen Seite des Flusses. "Schau mal, dort oben am Hügel. Wir haben sogar Zuschauer bekommen!"
„Das sind wahrscheinlich Boten. Denen werden wir etwas zu berichten geben!", meinte Thorsten mit einem breiten Grinsen auf den Lippen.
Rurik schüttelte abermals seinen Kopf. Er wollte es noch nicht aufgeben, seinen Häuptling davon abzuhalten, zu einem Kriegsverbrecher zu werden.
„Ragnar. Es gehört nicht zu unserer Art so mit Gefangenen umzugehen", begann er, allerdings schnellte Ragnars Hand drohend in die Luft.
„Schnauze! Hör endlich auf den Tugendbold zu spielen! Es geht mir mächtig auf die Eier! Im Krieg laufen die Dinge nun mal anders, mein geschätzter Hauptmann", zischte Ragnar und deutete dann mit seiner Hand auf den wimmernden Haufen Franken vor ihnen. „Das hier sind keine Normannen. Das sind Christen und die hätten mit uns das Gleiche getan, wenn sie uns gefangen genommen hätten! Die Franken sollen uns fürchten lernen. Wir sind hier nicht zum Kuscheln hergekommen, sondern um sie zu schlachten!"
„Ragnar ...", wollte Rurik ansetzen, aber sein Jarl hatte ihm bereits den Rücken zugedreht.
„Erhängt sie!", befahl Ragnar lautstark.
Plötzlich kam Bewegung in die wartenden Wikinger, die wie Aasgeier um die Gefangenen gestanden hatten. Die ersten zehn fränkischen Kriegsgefangene wurden an den Schultern gepackt und zur Richtstätte geschleppt. Sie brüllten und flehten um ihr Leben, aber man hörte nicht hin. Man hatte die Gefangenen ihrer Kleidung entledigt und ihnen alle Wertsachen, die sie an ihren Körpern trugen genommen. Sie sollten so, wie ihr Gott sie geschaffen hatte um ihr Leben gebracht werden.
Einer nach dem anderen wurde ein Seil um den Nacken geschlungen. Die kleine Flussinsel bot einen fantastischen Schauplatz für eine Massenhinrichtung und genau das war es, was Ragnar wollte: Aufmerksamkeit.
Er wollte die Franken schockieren. Er wollte, dass sie sahen, was geschah, wenn man einem Normannen in die Hände fiel. Er wollte, dass der König dieses Landes davon hören würde, wie grauenvoll seine Soldaten exekutiert worden waren.
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Belagerung
Historical FictionBand II Auf sich gestellt und tief verletzt begibt sich Aveline auf die Rückreise in ihre alte Heimat. Mit einem einzigen Ziel vor Augen: Zurück zu ihren Wurzeln. Ein beschwerlicher und gefährlicher Weg steht ihr bevor, auf welchem sie so manch kuri...