30 - Wonnemond

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Bei Fécamp, Westfränkisches Reich

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Der laute Ruf, welcher der Vogel dort oben unter den Wolken von sich pfiff, jagte Aveline eine unangenehme Gänsehaut über den ganzen Körper. Sie blieb auf dem Feldweg stehen und betrachtete das schöne Tier, wie es über ihr schwebte.

Der Falke zog seine majestätischen Kreise über einer Wiese, die sich neben der Landstrasse erstreckte und in einem Wald mündete. Sie liess ihren Blick über das Gras schweifen, als sie in der Ferne am Waldrand eine grosse Gestalt erblickte, die in den Himmel starrte. Aveline blinzelte angestrengt, aber in der Finsternis waren die Umrisse nur schwer zu erkennen.

Nebelschwaden schlichen über das hohe Gras und sammelten sich zu einem milchig weissen Schleier, der immer dichter wurde und ihr die Sicht erschwerte. Der Nebel wiegte sich in der windstillen Luft in leichten Wellen und Wirbeln hin und her. Die Gestalt in der Ferne stand noch immer regungslos am Waldrand, den Kopf gen Himmel gerichtet.

Aveline zögerte. Irgendwas kettete ihre Füsse an den Boden, so als wolle es ihr sagen, sie solle stehen bleiben. Ihr Herz klopfte plötzlich ganz aufgeregt in ihrem Brustkorb, als die Erkenntnis kam.

Ihr Albtraum!

Dieser Nebel, der Falke, die Gestalt in der Ferne. Es schien alles verdächtig ähnlich, wie die Wahnbilder, von denen sie geträumt hatte. Sie wich ein paar Schritte zurück und zog sich die Kapuze weiter über die Stirn. Irgendein Gefühl in ihrer Magengegend sagte ihr, dass sie von dieser bedrohlichen Person dort nicht gesehen werden sollte. Die dunklen Umrisse und die kraftvolle Grösse deuteten auf einen Mann hin und Aveline wollte jeglichen Kontakt mit Reisenden - insbesondere mit den männlichen - vermeiden. Sie traute ihnen nicht. Bei Tag nicht und ganz besonders nicht bei Nacht.

Noch hatte sie der Mann dort nicht gesehen, weshalb sie sich gerade in Bewegung setzen wollte, um unbemerkt weiterzugehen, aber in dem Moment wandte er den Blick vom Himmel ab und starrte zu ihr herüber. Sie gefror zu Eis, so als hätte der Blick dieses Mannes sie gefesselt - selbst über das ausgedehnte Feld hinweg. Er hatte sie gesehen! Ihr Atem stockte. Irgendwas Beunruhigendes ging von der Person dort in der Ferne aus.

Für ein paar Atemzüge blieb sie wie erstarrt an derselben Stelle stehen, bis ihr Geist die Überhand über den Körper gewann und sich die Starre in ihren Gliedern löste. Ihr Albtraum hatte eine schreckliche Wendung genommen - erinnerte sie sich - und sie wollte nicht, dass diese Visionen auch noch Realität wurden.

Geistesgegenwärtig rannte sie davon, so schnell es hinkend ging. Aveline musste schleunigst Abstand gewinnen. Sie biss die Zähne fest zusammen. Den ganzen Tag war sie schon auf wunden Sohlen gelaufen. Aber der Fluchtinstinkt betäubte den Schmerz in den Füssen, der mit jedem Schritt unerträglicher geworden wäre. In ihrem Kopf rasten die Gedanken. Sie überlegte sich schon, wo sie sich verstecken wollte, für den Fall, dass dieser Kerl ihr auf den Fersen war.

Keuchend rannte sie in das Waldstück vor ihr und wurde augenblicklich von der Dunkelheit verschluckt. Mit klopfendem Herzen blieb sie hinter einem Baumstamm stehen und lugte vorsichtig hervor. Ihr Atem ging schnell und bildete in der kühlen Luft kleine Dunstwolken vor ihrem Gesicht. Ihr eigener schneller Puls rauschte ihr in den Ohren. Unzählige Herzschläge lang blieb sie hinter dem dicken Baumstamm verschanzt stehen, bis sie erleichtert aufatmete.

Der unheimliche Mann war ihr nicht gefolgt. Sie lehnte sich zur Rast an den Stamm und wartete, bis ihr Atem wieder ruhiger ging und ihr Herz regelmässiger in ihrem Brustkorb schlug.

Eigentlich hatte sie kaum noch Energie für solche Kurzstreckensprints. Seit ihrem Abschied von Faralda war sie eine beachtliche Distanz zu Fuss unterwegs gewesen. Ohne Karren und Esel gestaltete sich die Reise durch das Land aber als mühsam und energieraubend. Den ganzen Tag war Aveline schon auf den Beinen und sie wusste, dass sich Blasen an den Füssen gebildet haben mussten. Selbst wenn sie es durch die Narben nicht fühlte, sie hatte beim Gehen einen unangenehmen Druck in den Fersen gespürt.

BelagerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt