Zwischen Viborg und Silkeborg, Mitteljütland
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Aveline rannte, aber ihre Füsse bewegten sich kaum vom Fleck. Ihre Beine waren schwer und fühlten sich taub an. Sie blickte über die Schulter und sah, wie hinter ihr ein weisser Nebel über die Landschaft schwappte und alles wie eine zähe Flüssigkeit in sich verschlang. Sie fühlte, wie die Angst ihr die Luft zuschnürte. Mit aller Kraft stampfte sie ihre Füsse in den Boden um Geschwindigkeit aufzunehmen, aber es half alles nichts.
Da erreichte sie ein Haus, ein Unterschlupf - Sicherheit! Mit beiden Händen stiess sie die schwere Tür auf und stürzte ins Innere. Es war dunkel im Raum und sie versuchte krampfhaft ihre Augen an das wenige Licht zu gewöhnen. Sie blinzelte.
Plötzlich stand er vor ihr. Seine Augen leuchteten blau, wie zwei helle Sterne in der Nacht. Sein Mund war geöffnet, als ob er schreien wollte, aber kein Ton entkam seiner Kehle. Erschrocken strauchelte Aveline rückwärts und fiel in eine rote Flüssigkeit. Sie keuchte und spuckte. Das Wasser, in das sie gefallen war, schmeckte metallisch. Wie Blut.
Es war Blut!
...
Sie kreischte auf und mit einem Schlag war sie von ihrem Albtraum erwacht. Ihr Hals fühlte sich rau und wund an. Sie musste im Traum geschrien und sich auf die Zunge gebissen haben, denn sie schmeckte tatsächlich Blut. Um sie herum herrschte Dunkelheit, nur die seufzenden Geräusche des Waldes waren zu vernehmen. Sie setzte sich auf und wischte sich den kalten Angstschweiss von der Stirn.
Nicht schon wieder so ein Traum!
Schon die Nacht zuvor hatte sie genau dieselben Dinge geträumt. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung. Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals, solch schreckliche Angst hatte sie gefühlt. Ihre Hände streckte sie vor sich aus und beobachtete, wie das Beben mit ihren Atemzügen langsam verebbte.
Sie zog die Knie zu sich heran. Das schwarze Gewand um ihre Schultern schenkte ihr gegen diese unbarmherzige Kälte nur wenig Wärme. Sie fröstelte. Warum musste es im Norden auch so grässlich kalt sein?
Sie rieb sich die eisigen Hände und blies den Atem in ihre hohle Hand. Es half nur wenig und ihre Zähne klapperten schon. Sie sah ein, dass sie wohl oder übel versuchen musste, ein Feuer anzumachen. Nächtelang sich den Hintern abzufrieren war auf Dauer kein Zustand, den sie ertragen konnte.
Sie hatte vor lauter Zittern diese Nacht kaum einschlafen können. Und als sie es endlich geschafft hatte, wurde sie bloss wieder von dem schrecklichen Albtraum brutal in die Realität zurückgeschleudert. Seit Tagen litt sie an einem enormen Schlafmangel, der an ihrem Verstand zu nagen begann. Es war an der Zeit, ein Feuer zu machen und sich am Licht der züngelnden Flammen zu wärmen. Sie sehnte sich so sehr nach einem erholsamen Schlaf.
Am Vortag hatte Aveline gelbe Feuersteine auf dem Boden gefunden und sofort aufgelesen. Damit wollte sie draussen in der Kälte ein Feuer entfachen. Sie kramte die Steine aus der Innentasche ihres Kleides hervor und legte sie auf den Boden. Dann schob sie das Laub von der feuchten Erde zur Seite, um eine saubere Stelle zu bilden, auf welcher sie das Feuer machen wollte. Sie überlegte.
Das hier war anders als an der Feuerstelle im Wohnhaus. Dort hatte sie einen Funkenschläger, auf welchen sie den Feuerstein schlagen konnte und mit welchem das Feuermachen ein Kinderspiel war. Der Waldboden vor ihr war feucht, denn es hatte in der Nacht leicht geregnet. Sie schlug die Steine aufeinander, um zu prüfen, ob dabei ein Funke entspringen würde. Das tat es!
Sie grübelte weiter. Sie brauchte etwas, das rasch Feuer fangen würde. Eine schwierige Angelegenheit, wo doch alles um sie herum - ihre Kleidung inbegriffen - die Feuchtigkeit der Luft aufgesogen hatte. Den Kapuzenumhang würde sie sicherlich nicht für ein paar warme Stunden am Feuer opfern und sowieso triefte dieser vor Nässe. Sie tastete an sich herab und fühlte, dass der Stoff ihres Untergewandes für einen Versuch trocken genug sein müsste. Mit einem bestimmten Ruck entriss sie einen Fetzen vom weissen Leinenstoff und knüllte ihn zusammen.
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Belagerung
Historical FictionBand II Auf sich gestellt und tief verletzt begibt sich Aveline auf die Rückreise in ihre alte Heimat. Mit einem einzigen Ziel vor Augen: Zurück zu ihren Wurzeln. Ein beschwerlicher und gefährlicher Weg steht ihr bevor, auf welchem sie so manch kuri...