27 - Wonnemond

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Paris, Westfränkisches Reich

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Loki tauchte seine Hände ins kalte Wasser des Flusses und bespritzte damit sein Gesicht. Die blutigen Tropfen, die von seiner Nase perlten, lösten sich im trüben Wasser des Flusses auf. Er warf sich eine weitere Ladung Wasser ins Gesicht und schnaubte durch die Nase. Ein klebriger, dunkelroter Schleim trat aus, den er sich mit dem Ärmel abwischte. Seine Hand strich über die Platzwunde an seiner Augenbraue, die noch immer arg blutete.

„Scheisse!", fluchte er und tupfte sich die Verletzung mit einem Lappen ab.

„Loki?", hörte er Rollo hinter sich.

„Lass mich!"

„Alles in Ordnung? Ich —", setzte Rollo an, doch verstummte sogleich beim Anblick von Lokis zerschlagenem Gesicht.

„Ich hab gesagt, lass mich in Ruhe!"

Das Antlitz des Lockenschopfs war derbe verunstaltet worden. Fäuste hatten in seinem Gesicht getobt - ausnahmsweise mal nicht die Fäuste seines Vaters - und nun versuchte Loki mit dem schmutzigen Lappen, das rinnende Blut zu stillen. Der zweite Hauptmann Thorsten Bordson hatte ihn während eines Tobsuchtsanfalles so zugerichtet. In Lokis Magen brodelte der Zorn. Einerseits weil dieser fiese Hauptmann ihn dermassen verdroschen hatte, obwohl er gar nichts verbrochen hatte und andererseits weil sein bester Freund die Schuld an all dem trug.

Als Ragnar vor drei Tagen mit Entsetzen festgestellt hatte, dass nebst seinem ersten Hauptmann Rurik auch sein fränkischer Sklave und somit die einzige Person in seiner Armee, welche die örtliche Sprache verstand, nicht mehr aufzufinden waren, hatte er augenblicklich Suchtrupps losgeschickt, um in den umliegenden Dörfern nach den beiden zu suchen. Der Jarl hatte gehofft, dass Rurik von selbst wieder auftauchen würde und sich nur im Suff davongemacht hatte. Als Rurik allerdings selbst nach drei Tagen nicht zurückkehrte, riss Ragnars Geduldsfaden und er wollte den besten Freund ausfragen lassen, denn dieser musste schliesslich über das Verbleiben des ersten Hauptmannes Bescheid wissen.

Thorsten Bordson hatte die Aufgabe gefasst Loki zu befragen und da es zur Art des zweiten Hauptmannes gehörte, seine Verhöre mit Gewalt durchzuführen, endete die Befragung in einer Prügelei. Loki hatte dem wütenden Thorsten nicht verraten können, wohin der erste Hauptmann verschwunden war. Thorsten hatte Loki allerdings nicht geglaubt und ihn ans Flussufer geschleppt um ihn mit Fäusten zu bearbeiten.

Nachdem dieser selbst unter Todesdrohungen nicht mit der Sprache rausgerückt war, hatte der breite Wikinger dem schmalen Burschen die Faust ins Gesicht geknallt, bis das Blut an seinen Fingerknöcheln klebte und Loki vor Benommenheit kaum noch ein Wort über die Lippen hatte bringen können. Dann hatte Thorsten ihn frustriert am Uferrand liegen gelassen und war laut fluchend davon gestampft.

Selbst wenn Loki es gewusst hätte, wohin Rurik verschwunden war, er hätte es diesem Dummkopf nie verraten. Aber Loki wusste wirklich nicht, wohin sein bester Freund gegangen war. Er selbst war genauso überrascht und ratlos über das Verschwinden seines Freundes, wie alle anderen auch. Loki kannte Rurik allerdings, denn er war schliesslich mit diesem Pflock aufgewachsen. Er wusste, dass sich sein Freund niemals grundlos von seiner Pflicht drücken würde. Rurik war ein ehrenvoller Mann und Loki vermutete, dass irgendwas Aussergewöhnliches ihn dazu bewegt haben musste, zu verschwinden.

Mit zitternden Fingern tastete sich Loki das zerschlagene Gesicht ab. Seine Knie gruben sich in den Ufersand des Flusses. Die Wunde an seiner Augenbraue brannte und das Blut floss noch immer tröpfchenweise aus seiner Nase. Seufzend erhob er sich und wandte sich Rollo zu.

„Na? Seh ich furchterregend aus?", fragte er den Skagener Burschen, der betreten da stand.

Dieser hatte einen äusserst bedrückten Gesichtsausdruck aufgesetzt und wirkte wie immer viel zu klein in seiner Rüstung.

BelagerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt