Auf der Seine, Westfränkisches Reich
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Rurik stand schweigend am Vordersteven und blickte über das spiegelglatte Wasser. Er musterte die vorbeiziehende Landschaft, während die Männer hinter ihm mit kräftigen Zügen die Ruder ins Wasser stiessen. Sie glitten geräuschlos an einer Trauerweide am Flussufer vorbei, die ihre langen, traurigen Arme ins Wasser tunkte. Häuser mit Steinmauern tauchten an den Flusswindungen auf, die Lichter dunkel, denn die Bewohner schliefen noch tief und fest. Ein Dunstnebel hing über der Wasseroberfläche.
Der Himmel war in ein Dunkelgrau getaucht. Am Horizont breitete sich jedoch langsam aber stetig ein heller, weisser Streifen immer weiter aus. Sachte ging er in ein sanftes blau über. Bald würde die Sonne aufgehen und die hellen Strahlen die Gesichter der Männer wärmen. Erste Vögel waren schon erwacht und begannen mit ihren morgendlichen Balzrufen.
„Rurik?", hörte er hinter sich.
Er drehte den Kopf, um über die Schulter zu spähen und erblickte den jungenhaften Rollo, der in seiner Rüstung etwas steif vor ihm stand. Seine Haare waren vom Schlaf noch zerzaust.
„Was willst du?", fragte Rurik strenger, als er es gewollt hatte.
„I-ich wollte mit dir über eine Angelegenheit sprechen", stotterte der Junge.
Rurik seufzte. Sein Atem verdunstete in der frühen Luft zu einem grauen Nebel vor seinem Gesicht.
„Was ist es dieses Mal? Soll ich dir nochmal zeigen, wie man einen Schwerthieb mit dem Schild pariert, ohne dass man dabei in die Knie gezwungen wird?"
„Nein. Es sind keine Lektionen über Kampftechniken, um die ich dich bitten wollte. I-ich... Man hat mir gesagt, du seist sehr bewandert in... naja... in... Frauenangelegenheiten."
Rollo räusperte sich, um den Kloss in seinem Hals loszuwerden, während Rurik sich ihm zuwandte. Das war jetzt nicht unbedingt der beste Zeitpunkt, um über Weiber zu sprechen - mitten auf einem Fluss in einem fremden Land, in welches sie erst kürzlich eingefallen waren. Insbesondere kurz vor ihrer nächsten Landung und möglicherweise kurz vor ihrer ersten Schlacht. Rurik fragte sich, was durch den Kopf dieses unerfahrenen Burschen gegangen sein musste, dass er dachte, dies sei der richtige Moment für sowas.
„Wer hat dir diesen Schwachsinn wieder erzählt?", fragte Rurik genervt.
„Loki."
Rurik verdrehte die Augen. Natürlich hatte ihm sein bester Freund das wieder einmal eingebrockt. Es war ja nicht so, dass Rurik schon genug zu tun hatte, den ganzen Tag mit diesem kleinen Fohlen an den Fersen auf Plünderung gehen zu müssen, jetzt wollte der Schlegel auch noch seinen Rat. Und das in einer Angelegenheit, in der er erst einmal reinwachsen musste. Ihm wäre es lieber gewesen, der Junge hätte ihn über Ragnars Schlachttaktiken ausgefragt.
„Der erzählt gerne dummes Zeug. Schenk' dem keinen Glauben, Rollo", winkte Rurik ab.
„Bitte, mein Hauptmann. Es ist mir ein wichtiges Anliegen. Ich will meine Frau nicht nochmal enttäuschen, wenn ich zurückkehre", stammelte Rollo.
Rurik hörte die Verzweiflung in seiner Stimme und seufzte laut.
„Enttäuscht? Du hast es wirklich geschafft, Torvi zu enttäuschen?", fragte er.
Rollo nickte verlegen und zeichnete mit seiner Schuhspitze geniert Kreise auf den Schiffsboden. Rurik warf seine Stirn in Falten. Es brauchte ja schon viel Versagen, um eine Frau gleich zu enttäuschen. Der Skagener blickte etwas nervös um sich, denn er befürchtete, dass jemand ihrem Gespräch, was ihm doch sehr peinlich war, folgen konnte. Aber Loki hatte die beiden bereits gehört und gesehen und so gesellte er sich zu ihnen an den Vordersteven, breit grinsend. Seine Arme stützte er in die Hüfte und ein Bein stellte er lässig auf eine Kiste.

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Belagerung
Ficção HistóricaBand II Auf sich gestellt und tief verletzt begibt sich Aveline auf die Rückreise in ihre alte Heimat. Mit einem einzigen Ziel vor Augen: Zurück zu ihren Wurzeln. Ein beschwerlicher und gefährlicher Weg steht ihr bevor, auf welchem sie so manch kuri...