Ein Jahr danach
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Inga hockte auf dem Bettrand und starrte an die Wand. Auf ihrem Schoss sass ihr kleiner Sohn, der fidel mit seinem Holzpferd spielte, das ihm sein Grossvater geschnitzt hatte.
Sie fühlte nichts. Ihr Herz war leer und genauso war es ihr Kopf. Kleine, feine Staubpartikel tanzten durch die Luft des dunklen Raumes. Es war still im Haus, denn seit geraumer Zeit wohnte hier niemand mehr. Mit einer Hand fuhr sie über die Decken und Pelze auf dem Bett, die nicht mitgenommen worden waren.
So oft hatte sie in diesem Bett mit Rurik geschlafen. So oft war sie hier voller Glück erwacht, wohl wissend, dass sein schöner, warmer Körper neben ihr schlummerte. Aber das gehörte alles der Vergangenheit an.
Rurik Jarson - der Schuft - war nie von der Reise ins Frankenreich zurückgekehrt. Er hatte sie mitsamt seinem Kind einfach im Stich gelassen. Obwohl niemand Inga wirklich hatte sagen können, was passiert war, ging sie davon aus, dass er einfach abgehauen war. Nie und nimmer war Rurik Jarson gestorben. Das war nicht möglich, denn Rurik starb nicht einfach so.
„Ein Kind ohne Vater", wiederholte sie die Worte ihrer Prophezeiung, die sie einst vor langer Zeit vom Priester gehört hatte.
Wie sehr sie doch ihr Leben verabscheute - und dieses mühsame Kind, das ihr die letzte Kraft raubte. Sie hob den kleinen Finn von ihrem Schoss und legte ihn auf dem Bett seines Vaters ab. Seufzend erhob sie sich und betrachtete ihn, wie er immer noch das Holzpferd zwischen den Fingern hielt, neugierig darauf schielend, glückselig zappelnd.
Der Junge ähnelte seinem Vater überhaupt nicht. Es wurmte Inga sehr, dass Finn so offensichtlich nicht Ruriks Sohn war. Am liebsten hätte sie ihn einfach da sitzen lassen, denn so wollte sie dieses Kind nicht. Sie hatte gehofft, dass sich ihr blondes Haar gegen die dunkle Mähne des eigentlichen Erzeugers dieses Bastards durchsetzen würde. Aber die Götter hatten sich gegen sie gestellt und dem Kind eine braune Haarpracht geschenkt.
Niemand ausser sie und die Götter wussten von ihrem Geheimnis. Wussten, dass sie - nachdem sie von Rurik dermassen abserviert worden war - sich hatte rächen wollen. Sie hatte schlicht nicht akzeptieren können, dass er sie nicht wollte. Als sie gesehen hatte, wie er diese hässliche Heilerin an der Hand genommen hatte, war ihr jedes Mittel recht gewesen. Kein Weib durfte ihr ihren Rurik wegnehmen!
Es war alles ganz genau geplant gewesen. Leider hatte das Glück nicht von alleine eingeschlagen, denn Rurik war bei jedem Schäferstündchen immer so bedachtsam gewesen und hatte sich nie - auch wirklich nie - in ihr gehen lassen. Darum musste der dumme Thorsten herhalten.
Sie hatte den klobigen Kerl an sich rangelassen, nur um an seinen Samen zu kommen. Eigentlich hatte sie geglaubt, dass Rurik sie zurückhaben wollen würde, wenn sie ihm bloss von ihrer Schwangerschaft erzählte und ihm vorgaukeln könne, es wäre seins.
Nachdem er aber selbst das nicht wollte und er nur noch über Ragnar dazu gezwungen werden konnte, war Inga schon etwas beleidigt gewesen, aber hatte sich damit abgefunden, dass sie dennoch gewonnen hatte.
So sehr hatte sie sich auf die Rückkehr der Männer gefreut, aber dann war dieser Schuft nicht zurückgekehrt! Selbst Thorsten nicht, der offenbar wegen irgendeiner Seuche gestorben war.
Der kleine Finn quiekte und holte sie aus ihren frustrierenden Gedanken. Eigentlich hatte Inga das Kind wieder loswerden wollen, aber als sie es gebar, hatte sie es nicht über das Herz gebracht. Sie konnte nicht, selbst wenn sie ihn so sehr dafür hasste, dass er nicht der Sohn ihres Traummannes war.

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Belagerung
Ficción históricaBand II Auf sich gestellt und tief verletzt begibt sich Aveline auf die Rückreise in ihre alte Heimat. Mit einem einzigen Ziel vor Augen: Zurück zu ihren Wurzeln. Ein beschwerlicher und gefährlicher Weg steht ihr bevor, auf welchem sie so manch kuri...