40 - Brachmond

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An der Seine, Westfränkisches Reich

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Der Regen prasselte unaufhörlich auf sie herab. In den Pfützen, die sich gebildet hatten, sprangen zwei Kinder glücklich umher, so dass das braune Wasser ihnen die Hosen beschmutzte. Aveline stand am Eingang des Bauernhauses und blickte die Frau, die ihr die Tür geöffnet hatte, flehend an.

„Bitte lassen Sie meinen Mann und mich für eine Nacht in Ihrer Scheune schlafen. Nur eine Nacht! Ich verspreche Ihnen, wir werden im Morgengrauen wieder verschwunden sein!", sagte sie durch ihre klappernden Zähne.

Ein Sturm war über sie hereingebrochen und Aveline hatte Rurik dazu überreden können, zu diesem einsamen Bauernhaus zu gehen um Unterschlupf zu suchen. Erst rieselte es nur ein wenig, aber dann hatten sich die Tröpfchen in Windeseile in einen strömenden Regen verwandelt und die beiden dazu gezwungen, das Trockene zu suchen.

Die misstrauischen dunklen Augen der Bäuerin wanderten von Aveline zu Rurik, der weiter weg auf dem Hof stand, seine Kapuze weit über den Kopf gezogen, so dass man seine nordischen Gesichtszüge nicht erkennen konnte. Der Rosenkranz lag deutlich sichtbar über dem Gewand auf seiner Brust. Die Frau musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen.

„Und warum trägst du keinen Ehering?", fragte sie an Aveline gerichtet, ohne den Blick von der grossen Gestalt auf ihrem Hofplatz abzuwenden.

„Wir wurden im Wald überfallen. Man hat uns alles gestohlen. Ich bitte Sie, gnädige Frau! Wir sind auf der Durchreise nach Paris und wollen für eine Nacht ein sicheres Dach über dem Kopf", sagte Aveline.

Sie hoffte, dass die Bäuerin endlich nachgeben würde, denn sie fror fürchterlich. Die Frau stemmte ihre Fäuste in die breite Hüfte, nach wie vor skeptisch.

„Kann der nicht für sich selbst sprechen? Schickt sein Weib, um betteln zu gehen?", murrte sie.

Aveline blickte flüchtig über die Schulter und sah, wie Rurik regungslos auf dem Hofplatz stand und neben ihm die Kinder im Dreck spielten. Seine normannische Kleidung war unter dem Mantel nicht zu erkennen. Die Frau hatte also eigentlich keinen Grund, so misstrauisch zu sein. Aveline überlegte fieberhaft, wie sie ihr Lügennetz weiter spinnen könnte.

„Er ist fast stumm", log sie. „Seine Kehle wurde vor einem Jahr von Wikingern durchtrennt. Er hat überlebt - dem Herr sei Dank - aber seither kann er kaum sprechen, nur krächzen. Sie würden ihn nicht verstehen. Wollen Sie seine Narbe sehen? Die sieht ganz fürchterlich aus."

„Nein, nein! Das muss ich nicht", winkte die Bäuerin ab.

„Wir suchen wirklich nur eine Unterkunft. Wir sind gute Menschen", murmelte Aveline und faltete ihre Hände vor sich zusammen.

Die stämmige Bäuerin wandte den Blick von Rurik ab und nickte dann.

„Also gut. Ihr könnt in die Scheune. Dort hinten bei den Schafen. Ich bringe euch eine Decke."

„Haben Sie vielen Dank! Gott segne Sie!", stiess Aveline aus und schüttelte dankend ihre Hand.

Als sie auf Rurik zuschritt, spürte sie, dass die Bäuerin sie noch immer misstrauisch beobachten musste. Sie blieb vor Rurik stehen und nahm seine Hand demonstrativ in ihre. Sie hoffte, dass er das Spiel mitspielen würde. Er hob den Kopf mit forschender Neugier in den Augen.

„Starrt sie immer noch?", fragte Aveline, woraufhin er nur stumm nickte. „Die glaubt mir nicht, dass wir verheiratet sind."

Rurik hob eine Augenbraue in die Höhe. 

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